: Denkanstoß
■ betr.: „Immer noch Angst?“, taz vom 1./2. 7. 95
Einen treffenderen Denkanstoß – aber auch nur Denkanstoß – anläßlich des diesjährigen CSD als denjenigen von Jan Feddersen und Alexander Heinz hätte die taz im Augenblick kaum bringen können: Distanzieren sich jene doch wie mittlerweile viele vom zwanghaft revolutionär-emanzipatorischen Gehabe der „Autonomen“ und von kleinkarierten Diskussionen über Sinn und Unsinn des CSD. Akzeptieren wir doch endlich den Karnevals-CSD als fröhlichen Ausdruck unseres gestiegenen Selbstbewußtseins und bleiben wir nicht wieder beim Lamentieren über irgendeinen Ausspruch dieser oder jener Person hängen!
Wenn wir uns mit uns selbst beschäftigen, dann nicht damit, ob wir uns anzupassen haben oder zu viel anpassen, zu politisch oder gar nicht politisch sind, sondern bitte damit, wie groß unsere Angst vor der Gesellschaft ist, um mit Herausforderungen tatsächlich fertig werden zu können. Oder haben wir – immer?? oder noch?? – eher Angst vor uns?
Doch hier heißt es weiterdenken! Kann nicht die Aufgabe der Schwulenbewegung zukünftig darin bestehen, zusammen mit Nichtschwulen zu versuchen, eine wirkliche Gegenkultur zur rollenbestimmten Männergesellschaft mit anderen Umgangsformen als denjenigen, die die Schwulenszene von Beginn an internalisiert hat, aufzubauen, nämlich mit mehr Ehrlichkeit vor sich selbst und der tatsächlichen Möglichkeit, Gefühle zeigen und ausleben zu können? Ob und wann nach 25 CSD- Jahren in der Schwulenbewegung eine solche Diskussion beginnt und ob eine solche zugelassen wird, darauf bin ich gespannt! Burkhardt Riechers, Berlin
[...] Das bloße Darstellen von Schwulsein in der Öffentlichkeit heute noch als emanzipatorisch zu begreifen, ist falsch. Politische Forderungen darauf zu begrenzen, „alles zu wollen, was Heteros auch haben“, ist nur Ausdruck davon, selbst zu den Privilegierten der bestehenden Gesellschaft gehören zu wollen, anstatt die Privilegien, zum Beispiel die Ehe, infrage zu stellen. Wir streben keine Integration und erst recht keine privilegierte Stellung in einer Gesellschaft an, die durch Konkurrenzkampf, Leistungsdenken, Ausgrenzung, Rassismus und Sexismus geprägt ist. Vielmehr halten wir es für erforderlich, den bestehenden Konsumkapitalismus durch eine menschenfreundliche, solidarische und ökologisch bestimmte Gesellschaft abzulösen.
Die albernen Kommerz-Paraden, für Feddersen/Heinz zeitgemäßer Ausdruck der „Homosexuellenbewegung“, sind durch Inhaltsleere oder postmoderne Beliebigkeit gekennzeichnet. Im Gegensatz zu Feddersen/Heinz halten wir dieses Konzept von „Brot und Spielen“ für falsch. Den Wandel der Einstellungen bei potentiellen TeilnehmerInnen, die sich heute als unpolitisch begreifen, als Argument für De-Politisierung der CSD-Veranstaltungen heranzuziehen, ist politisch falsch und letztlich eine self-fulfilling-prophecy.
Doch selbst aus schwulenspezifischer Perspektive gibt es noch zahlreiche Mißstände in dieser Gesellschaft, aus denen klare Forderungen zu folgen haben: So etwa ausreichende Mittel für Schwulenberatung, Aids-Prävention und die Betreuung Aids-Kranker, die Anerkennung von Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung als Asylgrund, Sanktionen gegen Staaten, in denen Homosexuelle nach wie vor verfolgt und gefoltert werden.
Feddersen/Heinz machen jedoch, wie die VeranstalterInnen der Kommerz-Paraden deutlich, daß es ihnen um ganz etwas anderes geht: Privilegien. Sie schrecken dabei nicht einmal davor zurück zu behaupten, die Forderung nach der schwulen Ehe sei „emanzipatorischer“ als die nach der Abschaffung des Patriarchats. Dies ist ein typisches Beispiel für die Tendenz bürgerlicher IdeologInnen, ihre Konzepte als einzig mögiche zu verkaufen, alle anderen als unpolitisch abzutun.
Wir empfehlen Feddersen/ Heinz, sich zunächst einmal mit ihrem (patriarchalen) Männerbild auseinanderzusetzen, anstatt Tuntenfeindlichkeit in der taz zu verbreiten. Im Gegensatz zu „den Autonomen“ (wir wüßten gerne, welche hier gemeint sind), normieren die Autoren selber, wie der Schwule als Schwuler zu sein hat: „nicht-angefummelt“, bieder und stinknormal.
Zur Ausgrenzung derer, die nicht in das Bild vom „normalen“ Mittelstandshomo passen, gehört auch der überhöhte Eintrittspreis der diesjährigen Hamburger CSD– Party, den Einkommenschwache, und dies sind u.a. Aids-Kranke, nicht zahlen können.
Die Unterstellung, wir gingen davon aus, Schwule seien per se revolutionär, ist Unsinn. Wir sind uns vielmehr durchaus bewußt, daß es auch bei politisch interessierten Schwulen mit dem kritischen Bewußtsein nicht sehr weit her ist, wie Feddersen/Heinz unmißverständlich zeigen.
Wenn das, was wir äußern und tun, „sauertöpfisch“ ist, sind wir gerne sauertöpfisch, uns allerdings als „Zuchtmeister“ zu bezeichnen, ist vielleicht etwas viel der Ehre. Die Schwule Baustelle,
Hamburg
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