: Mythos aus Fleisch und Knochen
Der Spanier Miguel Induráin gewann auch das zweite Zeitfahren der 82. Tour de France und baute seinen Vorsprung in der Gesamtwertung aus ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) – Der Schweizer Tony Rominger, so scheint es, ist ein unverbesserlicher Optimist. Im nächsten Jahr will der dann 36jährige endlich die Tour de France gewinnen, Schlüssel dazu soll ein Vorbereitungsprogramm sein, das exakt jenem von Miguel Induráin in dieser Saison gleicht. Das klingt ein wenig naiv, denn Induráin, der gestern – nach Redaktionsschluß dieser Seite – die Tour als erster Fahrer überhaupt zum fünften Mal in Folge gewann, wenn auf dem Weg nach Paris nicht noch etwas äußerst Unvorhergesehenes passiert ist, bereitete sich in diesem Jahr etwa so vor wie Rominger in den letzten Jahren. Und Romingers Vorbereitung ähnelte dafür der des Spaniers in den vergangenen Jahren. Der Sieger der Tour aber hieß immer Induráin.
Rominger kann tun, was er will, er schafft es einfach nicht, bei der Frankreich-Rundfahrt in einer Verfassung zu sein, die es ihm erlauben würde, endlich die hochfliegenden Träume in seinem Heimatland zu erfüllen. Alle Jahre wieder beweist die Sportpresse der Schweiz vor der Tour wochenlang, warum Induráin seinen Zenit längst überschritten hat und keine Chance mehr gegen Rominger haben wird, um dann kleinlaut zugeben zu müssen, daß es ja wohl doch wieder nicht gereicht hat.
Das Potential wäre sicher vorhanden. Im letzten Jahr nahm Rominger dem Spanier auf spektakuläre Weise den Stundenweltrekord ab, den Giro d'Italia gewann er so souverän, wie es Induráin in den Jahren 1992 und 1993 getan hatte. „Der Rominger vom Giro wäre hier ein Kandidat für den Gesamtsieg“, ist sich der Schweizer sicher. Aber die Italien-Rundfahrt war in diesem Jahr härter als sonst, keiner, der dort vordere Plätze belegte, spielte bei der Tour eine Rolle. Das volle Ausmaß der Klugheit Induráins, der kurzfristig den Start in Italien abgesagt hatte, erwies sich erst jetzt in Frankreich. „Seine Vorbereitung war die gleiche, was die Quantität der Arbeit betrifft, aber weniger intensiv“, sagt Sabino Padilla, Mediziner in Induráins Banesto-Team, „deshalb konnte er bei dieser Tour offensiver sein.“
Tatsächlich verließ sich der 31jährige diesmal weniger auf seine Spezialität, das Zeitfahren, auch wenn er am Samstag das Rennen gegen die Uhr über 46,5 km am Lac de Vassiviere überlegen gewann. Die Abstände zu seinen Gegnern waren jedoch vor allem beim ersten Zeitfahren der 8. Etappe geringer als üblich. Dafür hatte Induráin völlig überraschend am Tag zuvor auf einer relativ flachen Etappe attackiert und seinen schockierten Rivalen 50 Sekunden abgenommen, in den Alpen und Pyrenäen griff er am Ende der Etappen stets höchstpersönlich an, auch wenn er nie als Erster ins Ziel kam. Beim ersten Zeitfahren war er sogar mit einem kleineren Gang als sonst gefahren, um Kräfte für die Berge zu sparen.
„Ich glaube, er hat seine Taktik geändert und sich bei den Anstiegen verbessert“, meint auch Rominger, außerdem komme ihm Induráin kräftiger vor: „Ich erinnere mich, daß er in den vergangenen Jahren schlanker war als in der letzten Woche.“ Das Gewicht war schon immer ein großes Problem des geborenen Zeitfahrers Miguel Induráin, der schon 1984 mit 20 Jahren bei der Tour de Porvenir sein erstes Rennen gegen die Uhr gewann. Mit dem Klettern hatte der hochgewachsene Jüngling, der damals 90 Kilo wog, dagegen Schwierigkeiten, was ihm sein eigener Vater in nicht unbedingt feiner Weise unter die Nase rieb: „Mit diesem Arsch kommst du nie einen Berg hoch.“ Inzwischen liegt er bei etwa 80 Kilo, was immer noch bedeutet, daß er, um am Berg dieselbe Geschwindigkeit wie der kleine Chiappucci zu entwickeln, 13 Prozent mehr Kraft aufwenden muß.
Scheinbar kein Problem für Miguel Induráin. Stets hatte man den Eindruck, als könne er auch mit einem Bergspezialisten wie Marco Pantani mühelos mithalten, wenn er nur wollte, und tatsächlich verringerten sich die Abstände rapide, wenn er sich an die Verfolgung machte. „Er weiß, wann er seine beste Form hat und wieviel ihn von seinem besten Moment trennt“, lobt Padilla die untrügliche Intuition des Spaniers, Grundlage seiner stoischen Ruhe. „Er hat alles, Kraft und Kopf“, staunt Induráins früherer Kontrahent Gianni Bugno, der diesmal gute zwei Stunden hinterherfuhr. In jedem Moment weiß er, wen er wie weit ausreißen lassen darf. Und er hat die Mittel, entsprechend zu reagieren. „Im Juli ist er der stärkste, der konzentrierteste und der entschlossenste aller Fahrer“, bringt es Rominger auf den Punkt.
Die Organisatoren der Tour de France haben es längst aufgegeben, einen Anti-Induráin-Kurs auszuhecken, um die Rundfahrt spannender zu machen, für ein bißchen mehr Unwägbarkeit an der Spitze könnten sie jedoch durchaus sorgen. Wohl noch nie durfte sich ein Spitzenreiter mit knapp drei Minuten Vorsprung so sicher fühlen wie in diesem Jahr. Die Verfolger wie Zülle oder Rijs wußten genau, daß ihnen nach den Bergen nicht einmal ein Vorsprung von ein oder zwei Minuten etwas nützen würde, weil Induráin immer noch das Zeitfahren bliebe, um sich das gelbe Trikot zurückzuholen. So versuchten sie gar nicht, ihn ernsthaft anzugreifen. Läge das zweite Zeitfahren bereits zwischen Alpen und Pyrenäen, könnte zumindest das anders aussehen, auch wenn der Sieger am Ende vermutlich immer noch Induráin hieße.
„Für mich hat er sich in einen Mythos verwandelt, auch wenn ich weiß, daß er aus Fleisch und Knochen besteht“, sagt Bugno, möchte den Spanier allerdings nicht mit Eddy Merckx und Bernard Hinault, „den Mythen unserer Jugend“, vergleichen, die wie Jacques Anquetil die Tour ebenfalls fünfmal gewonnen haben. Diese nämlich hätten das ganze Jahr dominiert. „Niemand kommt Merckx gleich, doch ich glaube, daß auch Hinault ein Stufe höher steht“, sagt auch Rominger, ist aber sicher: „Man kann heute nicht mehr so fahren, wie sie es taten.“
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