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"Blavatzkys Kinder" - Teil 8 (Krimi)

Teil 8

Über Kooperationen und Partner in Asien und Afrika und den restlichen Teilen der Welt entschieden die beiden Bosse gemeinsam. Den stärksten Eindruck hatten die Chinesen hinterlassen. Man faßte eine engere Zusammenarbeit ins Auge. Besonders Deger war von der chinesischen Situation tief beeindruckt. Keine Opposition, keine kritischen Medien, die Wissenschaft fest im Griff und ein straffes zentralisiertes Gesundheitssystem.

* * *

Irgendwann wurde die Straßenbeleuchtung heller. Im Westen des Stadtteils Pest lag der Westbahnhof. Sie betraten ihn durch einen Seiteneingang. Miriam wurde in einen Warteraum gezogen und wäre fast über einen schlafenden Menschen gestolpert. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie überall Menschen, alte wie junge, Frauen und Männer, sogar Kinder.

Sie aßen karge Vorräte oder Lebensmittelabfälle, bettelten oder verkauften tagsüber Billigwaren wie Sprayflaschen, Seifen und schäbiges Kinderspielzeug aus Plastik. Sie kamen aus Ostungarn oder waren auf der Flucht aus Rumänien. Dieser Bahnhof war zur Zeit der einzige Ort, an dem sie für eine Weile geschützt vor Wind und Regen leben konnten und nicht fürchten mußten, vertrieben zu werden.

Sie setzte sich auf eine Bank. Miriams neue Bekannte wühlte darunter in ihrem Gepäck, auf das eine alte Frau offensichtlich aufgepaßt hatte. Sie fand ein vergilbtes Stück Papier und einen kurzen Bleistift und schrieb ein paar Worte, die sie Miriam hinstreckte.

„Ich kann das nicht lesen“, sagte Miriam.

Die Frau drängte. Ich will hier weg, dachte Miriam und stopfte den Zettel in ihre Hosentasche.

Miriam wich einem Reinigungstrupp und einem Betrunkenen aus und trat aus dem Seitenausgang unter den freien Himmel. Inzwischen hatte es kurz geregnet. Miriam atmete tief durch. Die Nacht war mondlos und schwarz. Die Stadt gefiel ihr überhaupt nicht mehr.

Keinen Schritt mehr zu Fuß. Sie fand eine Reihe von Taxis vor dem Haupteingang. Diesmal würde die Budapester Taximafia an ihr verdienen, sie achtete nicht darauf, ob der Taxameter richtig eingestellt war, und vereinbarte keinen Festpreis. Bloß weg.

Im Hotel ignorierte sie den Lift und rannte keuchend die drei Treppen zu ihrem Zimmer hinauf. Ihre Kondition ließ nach. Sie warf ihren Rucksack auf das Bett, ließ kaltes Wasser in beide Hände laufen und kühlte ihr Gesicht und ihren Hals.

Sie sah prüfend in den Spiegel, kämmte ihr Haar mit den Fingern, steckte ein bißchen Geld in die linke Tasche ihrer Jeans, zog die Jacke wieder an und ging hinunter in die Bar. Sie wollte allein unter Menschen sein. Leute beobachten und zugleich ihre Ruhe haben. Nachdenken.

* * *

Vierundzwanzig Männer und vier Frauen, alle teuer und konventionell gekleidet, saßen im sechsundfünfzigsten Stockwerk eines gläsernen Hochhauses in der Nähe des Empire State Building in New York. Sie tagten in einem Konferenzraum aus Glas und Metall und saßen in teuren schwingenden Ledersesseln an einem länglichen Tisch aus massivem Mahagoni. Ein knöchelhoher weißer Teppich.

Vor jedem Teilnehmer der Konferenz stand eine Mikrofonanlage. Wer etwas sagen wollte, mußte einen kleinen roten Knopf drücken, dann erteilte einer der beiden Präsidenten unter Umständen das Wort. Auf einem Sideboard unter einem naturalistischen Gemälde standen eine Reihe von Tabletts mit Mineralwasser, Säften, Tee- und Kaffeekannen, Gläsern, Tassen und Besteck. Wer durstig wurde, stand auf und bediente sich selbst.

Am Kopf des Tisches saßen die beiden Chefs. William S. Gates war sechsundvierzig Jahre alt. Ein Technokrat und Anwalt von Beruf, der jegliche Beschränkung von Wissenschaft und Technik haßte und für den Fortschritt bedeutete, daß die Stärkeren nicht von den Schwächeren gebremst werden durften. Er empfand grenzenlose Verachtung für demokratische Spinner, wie er sie nannte, hielt die Abschaffung der Sklaverei für eine der dramatischsten historischen Fehlentscheidungen und wollte die Organisation von „Niggern“ und „Gelben“ freihalten. „Schwarze“ wurden auf keinen Fall aufgenommen. Bei den „Gelben“ hatte er nachgeben müssen. Der Vorteil für die Organisation war zu groß.

Joachim Deger war mit einundfünfzig Jahren etwas älter als Gates und der politischere von beiden. Die beiden hatten grundsätzlich dieselben Ziele: was wissenschaftlich machbar war, bis zur Spitze zu treiben, den Einflußbereich ständig zu erweitern und schließlich so reich zu werden wie irgend möglich.

Fortsetzung folgt

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