: Ein vergessenes Zwischenspiel
Sie haben die Konzentrationslager überlebt, die Wälder des Ostens, die Flucht in die Sowjetunion. Als der Krieg aus war, kamen sie nach Deutschland. Dort wurden die jüdischen Displaced Persons in Lagern zusammengefaßt. ■ Von Michal Bodemann
Das hätten sich die jüdischen DPs (Displaced Persons) 1950 wohl auch kaum träumen lassen: Wurden sie damals von der Bevölkerung als „Läusepack“ und als „Parasiten“ aus Deutschland verabschiedet, so lud vergangene Woche die bayerische Landesregierung eine Anzahl von ihnen zum Empfang in den opulenten Kaisersaal der Münchner Residenz. Anlaß war die erste internationale Konferenz zu dem Thema „Überlebt und unterwegs – zur Lage und Lebenswelt der jüdischen Displaced Persons 1945–1950“. Der Ort war mit Bedacht gewählt, denn München und Umgebung beherbergte in Lagern wie Föhrenwald, Feldafing oder Landsberg von 1945 bis 1950 die Mehrheit der DPs; andere DP-Lager waren Bergen-Belsen in Niedersachsen und Zeilsheim bei Frankfurt.
Wer waren nun diese DPs, die sich selbst mit einem biblischen Begriff und mit verpflichtendem Auftrag „Sche'erit Hapletah“, der „Rest der Geretteten“ nannten? Mit vielen Hunderttausenden anderer, nichtjüdischer Flüchtlinge aus Osteuropa wurden sie nach Ende des Krieges vor allem in den DP-Lagern der Westzonen Deutschlands einquartiert. Sie hatten die Konzentrationslager überlebt, kamen aus den Wäldern des Ostens oder waren in die Sowjetunion geflohen. Mit den antisemitischen Ausschreitungen in Polen, die im Pogrom von Kielce im Juli 1946 gipfelten, wuchs die Zahl der jüdischen DPs drastisch an. Bis zu 300.000 Juden kamen so zeitweise auf den eben noch „judenreinen“ deutschen Boden.
Die alliierte Besatzung empfing sie nicht mit offenen Armen, sie wurden in Lagern auf engstem Raum untergebracht, teilweise mit Stacheldraht umgeben. Monate nach ihrer Befreiung trugen viele von ihnen noch die gestreifte KZ- Häftlingskleidung. Im Gegensatz zu anderen Nationalitäten, etwa aus dem Baltikum, wurden die jüdischen Ausreisenanträge schleppend bearbeitet; Palästina blieb ihnen aufgrund der britischen Politik gegenüber den Arabern zunächst weitgehend verschlossen. Jüdische Hilfsorganisationen durften zunächst nicht in die Lager hinein. Offener Antisemitismus herrschte nicht nur unter den Deutschen, sondern auch unter den Alliierten vor, bis hin zu dem in Bayern verantwortlichen General George Patton, der damals meinte, wenn die Juden „nicht bewacht werden, werden sie nicht in den Lagern bleiben und wie Heuschrecken das Land überziehen. Schließlich müssen sie zusammengetrieben werden, nachdem einige von ihnen erschossen und einige Deutsche ermordet und ausgeraubt worden sind.“ Der typische Vertreter der jüdischen DPs sei „eine Art Untermensch..., der noch niedriger als das Tier steht...“.
Berichte über die Behandlung der Juden führten Ende August 1945 zu dem von Präsident Truman kommissionierten Harrison- Report, der die Lagerbedingungen mit den Worten zusammenfaßte: „Wir scheinen die Juden so zu behandeln, wie die Nazis dies taten, nur daß wir sie nicht vernichten.“
Dieser Bericht schlug, wie die Berliner Historikerinnen Juliane Wetzel und Angelika Königseder jetzt auf der Tagung sagten, in Washington „wie eine Bombe ein“. Dan Diner aus Tel Aviv setzte die Sche'erit Hapletah in die größeren politischen Zusammenhänge und hob hervor, daß dieser Bericht wichtige Konsequenzen auch für die Bildung des Staates Israel hatte. Denn im Harrison-Report erzwang die Sche'erit Hapletah erstens die Abwendung von dem universalisierenden Prinzip, das die Juden als Minorität der jeweiligen Nationalstaaten – also etwa als polnische Staatsbürger jüdischen Glaubens – subsumierte, und zweitens die Anerkennung einer jüdischen Nationalität: Die Probleme der jüdischen DPs waren nicht mit denen anderer Vertriebener zu vergleichen. In seinem Vortrag fragte Norbert Frei vom Institut für Zeitgeschichte in München, wie die deutsche Umwelt die DPs sah: Sie war mit ihren eigenen Problemen und der Konstruktion ihres Opferstatus beschäftigt und stand dem jüdischen Schicksal gleichgültig gegenüber. Die jüdischen DPs befanden sich in einer gänzlich anderen Welt, und die Kontakte zwischen Juden und Deutschen beschränkten sich bestenfalls auf Schwarzmarktgeschäfte. Sowohl die jüdische als auch die deutsche Seite wünschten, daß jüdisches Leben in Deutschland, so Frei, so „rasch wie möglich zu Ende komme, aus freilich ganz unterschiedlichen Motiven, und für die deutsche Seite gilt es hinzuzufügen, aus Motiven, die uns noch heute beschämen müssen“.
Doch trotz der außerordentlichen Isolierung von der Umwelt wurde der jüdische Topos von deutscher Seite gelegentlich in einer die zukünftige ideologische Rollenzuweisung der Juden in Deutschland vorwegnehmenden Weise verarbeitet und von Deutschen okkupiert. In einer akribischen Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des Films „Lang ist der Weg“ von 1948 zeigte Cilly Kugelmann vom Jüdischen Museum Frankfurt, wie ein Film, der als ostjüdisch-deutsche Koproduktion begann und sich mit dem Thema der jüdischen DPs beschäftigen sollte, durch die „ideologische Handschrift des deutschen Drehbuchautors“ in eine völlig andere Richtung gerät. So wird die Vertreibung der Deutschen gleichgesetzt mit der Vernichtung der Juden, werden die „Unterschiede zwischen dem jüdischen und dem deutschen Schicksal nivelliert und zu einer gemeinsamen Leidensgeschichte verschmolzen“. Diese „Abschwächung von Schuldzuweisungen“ im Film entspricht dem „Versöhnungsgestus“ des Films, dessen Universalisierungstendenzen dem „Gefühl der Displaced Persons diametral entgegengesetzt“ waren.
Die Konferenz zeigte die innere Welt der DPs, ihre diversen Debatten, ihren „pragmatischen Zionismus“, die explosive kulturelle Entfaltung in den Jahren des Wartens in Deutschland. Es war ein letztes Aufblühen osteuropäischen jüdischen Lebens, das Osteuropa jedoch geistig längst verlassen hatte, wie Jacqueline Giere vom Frankfurter Fritz-Bauer-Institut es vortrug. Der autonome Charakter der Sche'erit Hapletah wurde von Anita Shapira aus Tel Aviv glänzend beschrieben. Die DPs hatten eine selbstbewußte Führung, die den Exodus aus Europa (Briha), organisierte. Dies widerspricht den herkömmlichen Erzählungen, in denen die Überlebenden von Zionisten paternalistisch als „hilflos, verwirrt, emotional und auf Hilfe und Führung angewiesen“ charakterisiert wurden und von Antizionisten ironischerweise ähnlich als „passive, anonyme, ziellose Masse“, die durch das „human engineering“ der Zionisten für deren Zwecke mißbraucht worden sei.
Kritik richtete sich gegen die Beiträge aus dem Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung. Deren Tendenz zum historischen Positivismus wurde als „Aneinanderreihung von Tatsachen“ aus der Perspektive der Bürokraten, nicht der Opfer, verstanden. Ein tiefer sprachlicher Graben, der auch guten Intentionen zum Trotz wohl nicht aufgehoben werden kann.
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