piwik no script img

Wien, ein „Kuddelmuddel“ als Identität

Willkommen in der Stadt des Weltbürgertums, sagt der Touristenführer. Die Stadt: Die Bedeckung eines Erdteils durch Klang, Beton und Neonlicht – wie die Schneeschicht, die den Samen den ganzen Winter durch vor dem Bodenfrost schützt, allerdings zu keiner Zeit zu schmelzen, ohne zweifeln zu lassen, daß sie über dem Gestern und über dem Morgen herrscht, ohne das Kind, den Maskot eines Frust- und Enthusiasmus-Chaos nacktzudecken. Ich danke Ihnen, sagt er, für die momentane Teilnahme an der mannigfaltigen Substanz unserer Stadt, auf die wir besonders stolz sind. Wir haben uns jahrhundertelang für Sie vorbereitet. In diesem Kaffeehaus können Sie essen und trinken. Unser Herr Kolacek wird Ihnen alle Ihre Wünsche erfüllen. Denn das Wiener Kaffeehaus ist der Ort des Friedens, sagt er mit stolzer Stimme. Diese alte Stadt ist sich ihrer Altersfalten bewußt, die durch alle Epochen mitfließende Geographien an ihr Gesicht gezeichnet haben. Mit diesen Altersfalten schminkt sie sich, mit dieser Schminke zeigt sie sich ihren Gästen, ihren Bewohnern, laufenden Menschen auf dem Gehsteig, wartenden Menschen in den Kaffeehäusern.

Ein Kaffeehaus im Herzen dieses Landes hat etwas Heimelig-Trautes, etwas von der orientalischen Gemütlichkeit, Souvenir seiner Herkunft, sagt der Touristenführer. Um jede Verwechslung unwillkommener Art aus der Welt zu schaffen! Es heißt Kaffeehaus – Betonung auf ee – und nicht Kaffeehaus – Betonung auf aff –, wie man uns einreden und aus dem Norden importieren will. Möglich, daß die drüben ein Kaffeehaus haben, das hier ist ein Kaffeehaus, eine Art Ersatzwohnung, ein Arbeitszimmer, in dem die stilvollsten und gedankensprühendsten Werke entstehen können. Wien ist eine Stadt mit abwechslungsreicher Substanz, auf deren Boden sich verschiedene Wege und Gegensätze begegnen. Es wird hier „Palatschinken“ gegessen, „Melange“ getrunken, der Ober Kolacek freut sich über sein „Bakschisch“. Wo hat man die Form der Wiener Kipferl her? Die Stadt: Die wichtigste Komponente einer fast organischen Einheit, der Träger der endlosen Chronik des Sich-selbst-Seins eines Stadtbewohners.

Langsam! Außer Wiener Kipferl hat diese Stadt zwei andere Muttermale, die jeweils ein Ende an das Weltbürgertum setzen wollten: die durchlöcherte Jacke Franz Ferdinands und ein spielerisch verbrochener „Anschluß“. Die Donau floß nicht immer blau. Das Kaffeehaus als Ort des Friedens war gelegentlich eine trügerische Hoffnung. Eines ist aber immer gleich geblieben: In ihrem kosmopoliten Wesen war Wien immer schon ein Zuhause für den Phantasiearbeiter. Sie verletzte, beleidigte, verunsicherte und motivierte Künstler und den Philosophen. Das Ergebnis dieses Hautkontaktes war ihre Selbstdarstellung als bedeutende Prominenz unter den führenden Kulturstädten der Welt in allen Epochen der letzten Jahrhunderte. Auch heute hat sie viel zu bieten: Von Straßenmusik der Roma bis zu sündteuren Aufführungen mit Domingo, von Döner-Sandwich bis zu Promi-Restaurants gibt es ein breites Spektrum, das den Wiener Gaumen verwöhnt.

Ob ein vielfältiges, exquisites Kulturprogramm und die Küche des exotischen Gewürzes für das Schmelzen aller Eisberge ausreichend sind? Die Donau fließt auch heute manchmal trüb. „Du steigst ein in a Stroßenbahn, do sitzen zwanzg Leit und fufzene san schon Ausländer. Tratschn tun's aa no.“ Die Sache ist eine ernsthafte: Ausländerfeindlichkeit in Zusammenhang mit Rassismus ist auch in Wien, wie auch sonst irgendwo in Europa, der Einsatz einiger Politiker; der Gewinn ist das Mehrfache: ein oft ausprobiertes und bewährtes Mittel zur politischen Profilierung. Mit der rassistischen Stimmung als politischem Background versucht man die Menge auf paradoxe Denkweisen zu führen – wie etwa: „Ausländer sind an dem niedrigen Lebensstandard schuld.“ Daß auch in Wien einige österreichische Personen und Institutionen durch Briefbomben attackiert werden, weist jedoch auf eine andere Tatsache hin: Das humane Material dieser Stadt ist noch lange nicht erschöpft. „Do hört ma ja ka daitsches Wort mehr. Wo san mir denn hinkumma?“ Mir ist es auch ein Rätsel, gnädige Frau. Den vielen fragenden Stimmen dieser Stadt weiß ich keine Antwort zu geben. Diese Stadt irritiert und empört jedes nach Verständnis gierende Herz durch ihre Schminke an allen ihren Ecken und Enden, verziert durch die mit allen Epochen durchgeflossenen Geographien. Mit ihren halbversteckten Lebenszeichen in tiefen und verwirrenden Altersfalten ihres Antlitzes belustigt sie sich über diejenigen, die diese Stadt diagnostizieren wollen. Sie führt alles Bestreben nach dem absoluten Wissen zu einem Kuddelmuddel, einem wienerischen Durcheinander; und das ziemlich offensichtlich.

„Wien ist anders“, heißt die Devise, die an der Autobahneinfahrt die Kommenden grüßt. Wien auch nur ein bißchen verstehen zu können, verlangt wahrscheinlich mehr als nur wissenschaftlich kühles Blut. Diese Sache ist etwas für Amateurtopographen: Das absolute Wissen über diese Stadt kann nur durch naive Fragen in ihrem Schoß, durch Aufgeregtes sein Selbst suchen, ein bißchen kindlich, von einer Gasse in die andere, den bedrückenden Wiener Sommer, den scharfen Winter einatmend, aufgedeckt werden.

Das Kaffeehaus ist ja nicht dazu da, daß der Gast in aller Eile hereinstürzt, seine Tasse Kaffee hinunterstürzt und hinausgeschmissen wird. Die Seele will weder Kaffee noch Kaffeehaus, sage ich dem Touristenführer, sie will nur Geselligkeit, der Kaffee ist der Vorwand; in Wien: des g'hört so!

Ercüment Aytaç

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen