: Gärtner auf dem Friedhof Europa
Das 49. Theaterfestival in Avignon brachte die Politik zurück auf die Bühne: Es gab eine Bosnien-Deklaration, Greenpeace besetzte den Papstpalast und Ariane Mnouchkine inszenierte den „Tartuffe“ im Kampf gegen Le Pen ■ Von Jürgen Berger
„Wir fordern den Rücktritt von UN-Generalsekretär Butros Ghali und die Sicherung der UN-Enklaven in Bosnien-Herzegowina, wenn nötig auch mit militärischen Aktionen“ steht in einer Erklärung von Regisseuren und Choreographen, die sich letzten Donnerstag während des Festivals in Avignon vor dem Papstpalast zu einer politischen Demonstration versammelt hatten.
Erstunterzeichner sind Festivalchef Bernard Faivre d' Acier, Ariane Mnouchkine – die schon zu Lebzeiten legendäre Leiterin des ThéÛtre du Soleil – und Frankreichs derzeit wichtigste Choreographin, Maguy Marin. Als diese am Abend nach ihrer neuesten Choreographie „Ram Dam“ den Applaus unterbrach und die zweiseitige Erklärung in voller Länge verlas, knisterte es im Publikum merklich. Einige verließen demonstrativ den Saal, ein Mann rief wütend, ob Frankreich nun in den Krieg ziehen solle.
Maguy Marin hat vor sechs Jahren in einer Choreographie zum 200. Revolutionsjubiläum noch einen anderen Blick auf die Funktion des Militärs im Staate und zeigte eine der weniger erfreulichen Folgen der französischen Revolution: die allgemeine Wehrpflicht und die daraus entstandenen modernen Armeen. Angesichts des skrupellosen Vorgehens der bosnischen Serben befürwortet Maguy Marin nun Militäraktionen; als sie die Deklaration verlas, hatte man den Eindruck, sie treffe die allgemeine Stimmungslage der Zuschauer im Saal.
Politik des Sonntags- spaziergangs
Avignon war in den letzten Jahren immer wieder Podium für kulturpolitische Manifestationen; daß Künstler zur Außenpolitik Stellung nehmen und mit der Androhung eines Hungerstreiks ihre Forderungen untermauern, hat eine neue Qualität und paßt in den Kontext des diesjährigen Festivals. Es findet in einer politisch gespannten Atmosphäre statt, die französische Öffentlichkeit wird nicht nur von Bosnien, sondern auch vom Erstarken der Front National und der Wiederaufnahme der Atomversuche in der Südsee in Atem gehalten. Von letzterem eher weniger – als das Festival mit Pina Bauschs „Café Müller/Sacre du Printemps“ eröffnet wurde, besetzten südfranzösische Grüne die große Freitreppe der Hauptspielstätte im Papstpalast. Es wirkte jedoch eher wie ein Sonntagsspaziergang. Als Ariane Mnouchkine allerdings ihren „Tartuffe“ vorstellte, wurde zum ersten Mal die klare Trennung zwischen der Kunst auf der Bühne und den politischen Manifestationen nach oder vor der Vorstellung aufgehoben. Dieser „Tartuffe“ ist eine Parabel auf die Heilsversprechungen heuchlerischer Moralisten vom Schlage des Front-National-Führers Le Pen. Eines ist sofort klar: Molières Heuchler, der mit sechs schwarz gekleideten Gestalten in den Papstpalast eindringt, ist ein religiöser Fundamentalist. Sein finsteres Gefolge kontrolliert das Terrain. Haben sie erst einmal die Macht im Staat, werden sie alles auslöschen, was ihnen in die Quere kommt. Ihre Auftritte hat Ariane Mnouchkine mit dem Gegröle einer fanatisierten Menge unterlegt. Aus Anlaß des offenen Rassismus der Le-Pen-Partei und der drei Bürgermeister, die sie in Toulon, Orange und Marignan stellt, wiederholt sich in Frankreich eine Diskussion, die es in Deutschland um die „Republikaner“ gab: Boykottieren oder bekämpfen? Die Antwort Mnouchkines ist eindeutig: bekämpfen.
Das ThéÛtre du Soleil ist nach langer Zeit wieder in Avignon vertreten und zeigt auch „Ville Parjure“ nach einem Text von Hélène Cixous. Europa ist, seit Aischylos am Ende seiner Atridentrilogie die Demokratie ausrufen ließ, in einem miserablen Zustand, so daß für den Dichter in der „Meineidigen Stadt“ lediglich der Job eines Gärtners auf dem Friedhof Europa bleibt. Die zentrale Figur, eine Mutter, deren Söhne getötet wurden, sucht vergeblich Gerechtigkeit. Sieben Stunden lang macht sie das, obwohl Ariane Mnouchkine Cixous' Text bereits passagenweise gekürzt hat.
Wäre Matthias Langhoffs Inszenierung von Shakespeares „Richard III.“ in einer Zeit auf die Bühne gekommen, in der sich gesellschaftspolitische Fragen weniger drängend stellen, hätte man ihm wohl den Vorwurf einer „aufgesetzten Aktualisierung“ gemacht. Da es jedoch immer mehr Politiker gibt, die regionale Instabilität zur Durchsetzung eigener Macht nutzen, wirkt Richard III. wie ein heutiger — wenn auch verfremdeter — Prototyp der Spezies.
Vorbeugendes „Müllern“ im Titel
Marcial di Fonzo Bo kokettiert mit dem Publikum und reproduziert schnell, was es sehen will. Ein jugendlicher Draufgänger, der die Kunst der Intrige mit der Muttermilch eingesogen zu haben scheint. Langhoff, der abgesehen von seinem kurzen Intermezzo als Co-Direktor des Berliner Ensembles (1992/93), seit Mitte der 80er Jahre fast ausschließlich an französischen Bühnen arbeitet, nennt das Ganze „Gloucester Zeit/Shakespeare Material/Richard III“, obwohl er sauber an Shakespeares Text entlang inszeniert. Vermutlich „müllert“ er im Titel, weil das französische Publikum ein Faible für Heiner Müller hat. Langhoffs Inszenierung zählte zum Besten des diesjährigen Festivals, auf dem kaum Eigenproduktionen zu sehen waren.
Man vergewisserte sich eher der eigenen Festivalgeschichte, zu der Ariane Mnouchkine oder auch Pina Bausch gehören. Als Bausch ihr Tanztheater zum ersten Mal in Frankreichs Süden vorstellte, hatte sie eine enorme Sogwirkung auf die französischen Choreographen. Jetzt ist sie mit zwei ihrer Tanzabende aus den 70er Jahren nach Avignon zurückgekehrt: „Café Müller“ und „Le Sacre du Printemps“ — ein Versuch, die eigene Arbeit zu sichern. Ein Newcomer in der Festivalgeschichte ist dagegen Frankreichs neu gekürter Kulturmininister, Philippe Douste- Blazy. Den Sprung vom Staatssekretär ins Ministeramt hat er dem Umstand zu verdanken, daß sein Vorgänger unter Chirac, Jacques Toubon, seine Pressekonferenzen inzwischen im Justizpalast abhält. Der schnelle Neue, der schon in Cannes eher Befremden hervorrief, gab in Avignon seinen Theatereinstand und verpatzte ihn neogaullistisch. Der Anlaß: ARTE, einer der Hauptsponsoren des Festivals und mit Live-Übertragungen täglich dabei, hatte in der Mitte der Mammutveranstaltung zu einer ganztägigen Diskussion über die schwierige Lage des Theaters im Zeitalter der Digitalisierung geladen.
Douste-Blazy allerdings war lediglich gekommen, um zu provozieren und sprach mit Blick auf Antoine Vitez von der maßlosen Überschätzung des Schauspielers und Regisseurs. Daß Vitez zu Recht eine Gallionsfigur des französischen Theaters ist, daß der Mitbegründer des Avignon-Festivals Brecht für Frankreich entdeckte und Vorreiter eines sozial engagierten Theaters war, scherte ihn dabei recht wenig. Verständlich, daß die anwesenden französischen Intendanten gereizt reagierten, worauf Douste-Blazy postwendend klein beigab.
Ein aparter Kontrast: Theatermacher, die sich zu den drängenden Problemen zu Wort meldeten, auch auf die Gefahr hin, sich zu vergaloppieren; und ein Kulturminister, der sich vergaloppierte, ohne eine Wort über die anstehenden Probleme zu sagen.
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