„Landschaft des Jahres“: das Kärntner Lesachtal

Öko-Engagement in den Alpen: Die Naturfreunde-Internationale schafft zwei Modellregionen in Österreich und in der Schweiz. Der sanfte Tourismuszug rollt jetzt als flott restaurierte Bimmelbahn.  ■ Von Christel Burghoff und Edith Kresta

Hört's die Stille?“ Andreas Gailer vom Lesachtaler Hof kennt nicht nur jedes Kräutlein auf der Alm, auch unter den Lesachtalern kennt er sich bestens aus. Und er weiß den Wert seiner Heimat zu schätzen. Im Lesachtal im sonnigen Kärnten herrscht Ruhe. Hier rauscht allenfalls der Bergwald oder der Bergbach. Dichter Wald zieht sich über die steilen Hänge des etwa 40 Kilometer langen Tals. Dazwischen propere Bauernhäuser, sauber gemähte Wiesen und Almen. Keine Seilbahn, kein Lift stört die Idylle. Ein wahres Eldorado für Wanderer und jene, die Stille abseits vom Rummel touristischer Gebiete suchen. Kurvenreich schlängelt sich die schmale Hauptstraße durchs Tal. Kapellen, Kreuzwege und vielfach der gekreuzigte Jesus am Wegrand demonstrieren die Daseins- und Jenseitssicht der Lesachtaler. Im Wallfahrtskloster Maria Luggau tut sogar die Jungfrau Maria ihre Wunder. Lifestyle, gewachsen in jahrhundertelang gefestigten Bahnen.

Diese bewaldete Idylle des Lesachtales ist zur „Landschaft des Jahres 1995/96“ gekürt worden. Alle zwei Jahre vergibt die Naturfreunde-Internationale diese Auszeichnung für eine „grenzüberschreitende Region von exemplarischer Bedeutung“. Als Modellregionen wurden heuer das Lesachtal in Österreich und das Gebiet Furka/Grimsel/Susten in der Schweiz ausgewählt. Zweck dieser Naturfreunde-Aktion ist es, „Konzepte für eine nachhaltige Entwicklung der ausgewählten Regionen“, in diesem Falle der Alpen, zu entwickeln.

„Wenn die Bauernhöfe existieren, wird auch das Lesachtal bleiben“, meint der Landwirt und Privatzimmervermieter Franz Unterguggenberger, Vizepräsident der Landwirtschaftskammer Kärnten. Für ihn wie für die meisten Lesachtaler war und ist Tourismus immer nur Zuerwerb. Er prägt nicht gänzlich die Infrastruktur. Das Tal liegt abseits der Hauptverkehrswege, und wegen schwieriger geologischer Bedingungen stand der massentouristische Ausbau nie wirklich zur Diskussion. Kein Großprojekt, kein Großkonzern und auch keine Verschuldungsmisere belastet das Tal. „Gästezimmer, die mit der Substanz des Waldes ausgebaut wurden“, für Urlauber, die meist von der Frau des Hauses betreut werden. Die freut sich nach einem langen und vielleicht auch langweiligen Winter auf die Gäste, die neuen „Unterhaltungsstoff“ bringen, erzählt Pauline Unterguggenberger. Es sind kleinteilige gewachsene Verhältnisse, solide wie die Balken der Häuser.

Doch die Bergwirtschaft hat ausgedient. Sie lebt von Subventionen und wird heute hauptsächlich als Grundproduktion, die die Lebenshaltungskosten verbilligt, betrieben. 194 Bauernhöfe gibt es im Lesachtal; zwei Drittel der Bauern vermieten Zimmer an Touristen. Viele Einheimische müssen zur Arbeit außerhalb des Tals pendeln. In ganz Österreich gehen die Touristenzahlen zurück. Auch im Lesachtal wackelt damit eine wichtige Einnahmequelle.

Feierliche Proklamation der „Landschaft des Jahres“ Mitte Juli auf der Frohnalm: Freunde der Natur und des Lesachtales sind angereist. Tusch und Empfang in St. Lorenzen. Dann wandern alle den schweißtreibenden Weg zur Alm hinauf. Die meist älteren Besucher sind gut zu Fuß. Baumwollmützen schützen vor der Sonne, der Wanderstock gehört dazu. Oben gibt es Erfrischungen, Alpenhorn und Chöre. Honoratioren wie der Nationalratspräsident und Präsident der Naturfreunde Österreichs, Heinz Fischer, sprechen zum offiziellen Akt, der Talpriester weiht den Gedenkstein, rote Trachten und bunte Dirndl leuchten in der Sonne, die Blechblasinstrumente blenden – Brauchtum pur in reinster Natur.

Die Gäste wissen dies zu schätzen. Die meisten haben das mittlere Alter weit überschritten. Die Kultur, die ihnen hier geboten wird, ist die Kultur ihrer Jugend. Sie können sich damit identifizieren – in Erinnerung schwelgend an Zeiten, als deutsche Familien mit Kind und Kegel in die Berge fuhren, ins Idealurlaubsziel der Nachkriegszeit. Damals, als Edelweiße für die heimische Schrankwand gepflückt wurden. Denn im Talkessel des Lesachtales hat sich erhalten, was draußen in den Städten nicht mehr zählt: Bodenständigkeit und Brauchtum zwischen Gesangs- und Volkstanzgruppen.

Ob Mann, ob Frau, sozialer Treffpunkt ist der Verein. „Da wird noch miteinander geredet“, meint der Bauer Karl Waldner aus Obergail. Schade findet er nur, „daß durch den Tourismus nicht mehr viel Zeit dafür bleibt und daß das Brauchtum aufgebauscht wird.“ Demgegenüber lobt Festredner Hans Haid aus dem „hart“ erschlossenen Ötztal die „lebendige, autonome Volkskultur“ dieses Tales. Der Tourismuskenner, Volkskundler, aktiv praktizierende Bergbauer und Schriftsteller – so präsentiert er sich selbst – kann das Lesachtal nur „loben und preisen“. Für ihn kommt die „Talidentität aus der Selbsthilfe“.

Zum Beispiel Brigitte Lugger. Sie hat ein Geschäft für regionale Produkte samt regelmäßigem Bauernmarkt in Maria Luggau aufgebaut. Holzgeschnitztes, Stickereien zum Muttertag, Gestricktes, Hüttenschuhe und Holzperlen, Kerzen, Naturkosmetik und vieles andere sollen sich vom Plastikkitsch zwischen Marienbildchen und Schneekugeln im gegenüberliegenden Andenkenladen des Klosters abheben. „Wir schauen schon, daß der große Kitsch aus dem Laden draußen ist“, meint die selbstbewußte Brigitte Lugger. Sie siedelt Brauchtum jensseits vom „Musikantenstadl“ à la Karl Moik an.

Das wollen alle. Auch Pauline Unterguggenberger. Die Privatzimmervermieterin und sechsfache Mutter weiß vom Segen des wöchentlichen Kirchganges zu erzählen und der Kraft, die ihr die ordnenden Institutionen Kirche und Familie verleihen. Mit unerbittlicher Sicherheit präsentiert Pauline Unterguggenberger ihr konservatives Weltbild. Fassungslos hört ihr die junge Stuttgarterin mit der angepunkten Frisur zu. Ihr heftiges Augenrollen kommentiert die flammende Rede von Pauline Unterguggenberger in der Küche des Bergbauernhofes.

Rückschrittlichkeit als Programm für die Zukunft? Die Naturfreunde haben mehr im Blick. Gemeinsam mit Vertretern der Gemeinden, mit Verbänden und Initiativen vor Ort wollen sie modellhafte Projekte für eine nachhaltige Entwicklung der Region anregen. Damit sollen auch in Zukunft die Existenz der einheimischen Bevölkerung und die ökologische Stärke der Region gesichert werden. Im Lesachtal fördern die Naturfreunde beispielsweise den Bau von Themenwanderwegen zu den „Kraftquellen der Landschaft“, die Einrichtung einer „Schule des sanften Reisens“ und ein „Öko-Check-up“. Jugendliche kommen zu Workcamps und bauen Wege aus. Neue Anregungen, neue Zielgruppen kommen dadurch ins Tal. Das Know-how und der Apparat einer internationalen Organisation verschaffen dem Ökoprojekt Lesachtal europaweit Resonanz. Denn, so Franz Unterguggenberger, der Vizepräsident der Landwirtschaftskammer Kärnten: „Unsere Sorge ist: Wie weiß man's in Hannover, daß es uns gibt?“

Doch die Naturfreunde verstehen sich nicht als Marketinginstrument. Auf Regionaltagungen und an runden Tischen sollen jene Forderungskataloge für eine nachhaltige Entwicklung diskutiert und erarbeitet werden, die sich an die jeweilige Bundesregierung und die Europäische Union richten. Es geht um ökologische Entwicklungsansätze für den Alpenraum. „Wir verstehen uns nicht als Greenpeace des Tourismus“, erklärt Manfred Pils, Generalsekretär der Naturfreunde-Internationale. „Unsere Projeke müssen einen positiven Inhalt haben.“ Und Reinhard Dayer, Generalsekretär der österreichischen Naturfreunde, setzt dabei auf den Nachahmungseffekt: „Vom Schneeball zur Lawine – das soll unser Erfolg sein!“

Eine Schneeflocke für den Schneeball ist immerhin der touristische Themenwanderweg „Kraftquellen der Landschaft“: die Kraftquelle „Natur“ zur Erholung und Entspannung, die Kraftquelle „Wasser“ als Antrieb für Mühlen und Handwerksbetriebe, die Kraftquelle „Kultur“ als Grundlage der menschlichen Identität und nicht zuletzt die Kraftquelle „Religion“ als sinnstiftende Basis. Was die Kraftquelle „ehemalige Bundesstraße“ in diesem hehren Kanon zu suchen hat, verursacht einiges Erstaunen bei den Wanderern. „Vielleicht war hier früher eine Tankstelle“, mutmaßt einer. Vielleicht die Kraftquelle „Energie“ zum Weitergehen? Die Lesachtaler nehmen die Ressource offenbar, wie sie kommt.

Hier spielt Verpackung noch keine große Rolle. Das Kaufhaus Unterluggauer ist Tante Emma pur. Wein neben Thunfisch, Schokolade über Schuhcreme, zwei Sorten Käse, zwei Sorten Wurst. Vom Blümchengeschirr über Eau de Cologne bis zur Kinderpuppe ist alles auf engstem Raum zu kaufen. Spartanische Warenwelt. Für das auf Warenästhetik getrimmte Auge ein Chaos. Für den am Gebrauchswert orientierten Kunden ein unschlagbares Angebot: Selbst Büroklammern und Fischleine fehlen nicht. Von der überbordenden, überflüssigen Vielfalt zurück zum spartanischen Grundbedürfnis. Die Grundversorgung stimmt – auch im Tourismus. Das Lesachtal ist auch eine Entschlackungskur für den Touristen: Abwerfen von Ballast des überkommerzialisierten Freizeitangebots.

„Hört's die Stille?“ Andreas Gailer wird nicht müde, darauf hinzuweisen. Nur die Friedhofsruhe in der Tourismusentwicklung beunruhigt ihn. Als einer der wenigen SPÖ-Mitglieder im Tal kritisiert er die Unfähigkeit, den Eigennutz und die Verstocktheit der Verantwortlichen in diesem „schwarzen Loch“. Ihm selbst bleiben die Stammgäste allmählich weg, oder sie sterben schlicht aus. In der Proklamation der „Landschaft des Jahres“ durch die Naturfreunde-Internationale sieht er eine neue Chance. Vielleicht, so erklärt er im trauten Kreis, habe dadurch der Vizebürgermeister, der SPÖ-Mann und Projektleiter der „Landschaft des Jahres“, Franz Guggenberger, endlich genügend Auftrieb, um etwas zu öffnen. Auch politisch. Die traditionell in der Arbeiterbewegung verankerten Naturfreunde haben mit dem Lesachtal ein traditionell konservatives Fleckchen prämiert. Ein Widerspruch?

Immerhin sind inzwischen selbst ehemals „hart“ denkende Tourismusmacher wie der Fremdenverkehrsobmann Gabriel Obernosterer auf den „sanften“ Zug aufgesprungen. Und der rollt fürderhin als flott restaurierte Bimmelbahn: traditionell, ökologisch, langsam und gut. Nostalgie hat seit der Entdeckung der Langsamkeit einen unschätzbaren Wert.

Irgendwie auch für das Lesachtal. Doch bis sich dieser neue Trend herumgesprochen hat, warten die Lesachtaler „auf die richtigen Gäste, die uns auf unserem ökologischen Weg bestärken“, so Franz Unterguggenberger. Dafür steht das Projekt der Naturfreunde.

Informationen: Naturfreunde- Internationale, A-1150 Wien, Diefenbachgasse 36, Telefon (0043) 1- 8923877. Verkehrsamt Lesachtal, A-9653 Liesing, Telefon (0043) 4716-231