Schußfahrt ins Grüne

■ taz-Heimatkunde (4): Syke, die Stadt im allzu Grünen, nagt am Hauptstadtkomplex, pflegt den Charme eines ausgedienten Kolonialstädtchens und wird derweil dornröschenmäßig zugewuchert

High Noon in „Wessels Hotel“. Die drei Alten murren ihr herzlichstes „Mohltid...“ herüber. Drei Biere ruhen fest in ihren Händen. Ein halber Jahrgang „Wild und Hund“ winkt vom Beistelltisch herüber. Kurz schaut ein Jungdackel in die Gaststube, den seltenen Gast zu beäugen – „komm' her, Zigeuner!“ Hat's denn auch einen Mittagstisch? „Da kommt der Chef“, atmet der Herr im Blaumann schwer, „den müssen Sie fragen.“ Der Stolz der Syker!

Etwas vom Charme ausgedienter Kolonialstädte durchweht die Stadt an heißen Sommertagen. Mit der Gebietsreform verlor Syke Mitte der 70er Jahre schlagartig sein angestammtes Adelsprädikat: „Kreisstadt des Kreises Grafschaft Hoya“. Den Hauptverwaltungssitz mußte man an Diepholz abgeben. Bis heute schneidet die Syker Bevölkerung hingebungsvoll die neue, gesichts- und geschichtslose Hauptstadt des „Kreises Diepholz“. Mit Erfolg: Einige Ämter trotzte man – wohl in der Art der Bonn-Berliner Ausgleichszahlungen – dem Neukreis ab. Ein paar Verwaltungsdinge werden weiterhin in Syke geregelt. So kann man den historischen Ämterhof hegen und pflegen; viele der Messingschilder mit dem Hinweis „Kreisverwaltung“ montierte man auch gar nicht erst ab.

Unverbrüchlich halten die KraftfahrerInnen der weiteren Umgebung z.B. der Syker Kfz-Zulassungsstelle die Treue. Schön ist es, der alltäglichen Parade der AutomobilistInnen beizuwohnen, die dem einer Hallenkirche nicht unähnlichen Fachwerkbau zuströmen. Mit gekonnter Herablassung klemmt man die verhaßten „DH“-Nummernschilder unter den Achseln zusammen – wohl dem, der sich beizeiten das altehrwürdige „SY“-Schild gerahmt hat. Zum Trotz pflegt man zumindest in Kleidungsfragen den alten Kolonialstil: weiße Shorts, saloppe Sandaletten, durch die stets neckisch reinweiße Frotteesocken mit sportiven Ringelmotiven blitzen.

Gleichviel: Die alte Hauptstadt ist im Umbruch. Die „Kreisstadt“ wirbt nun als „Stadt im Grünen“ um die Naherholungsgäste aus der Ferne. Ein grünes, auf Baumgröße aufgeplustertes „Y“ im Ortsnamen zeigt auf allen Broschüren unmißverständlich den Zeitenwandel an. Tatsächlich ist eine grünere Stadt inmitten der norddeutschen Steppe kaum zu finden: Zwei Waldgebiete, die ihren Namen auch wirklich verdienen, umschließen huldreich die Stadt im fruchtbaren Hachetal.

Nun soll es auch an allen übrigen Ecken und Enden der Stadt grünen. So üppig allerdings, daß der Syker Wildwuchs bisweilen seltsame Blüten treibt. Urwaldartige Auswüchse nimmt der Pflanzwille inzwischen rund um den zentralen Mühlenteich an. Das erfüllt freilich einen guten Zweck: Die Botanik deckt hier segensreich zu, was die Stadtplanung in Form einer rundum versiegelten, großklotzigen Fußgängerzone in die Innenstadt gepflastert hat. Auch die Fachwerk-Fassaden der Amtshäuser sind geradezu dornröschenmäßig umrankt und zugewuchert – nun gut, auch das macht seinen Sinn.

Aber die Herren vom Städtischen Gartenamt betrachten den Grünzug der Gemeinde auch mit Sorge. Mit 19 Leuten – wie soll die Stadt im Grünen da zu schaffen sein? Zumal jetzt, zur Ferienzeit? „In drei Kolonnen“ müßten die Grüntrupps ausrücken, wenn's ans Mähen, Stutzen und Schnetzen des Gemeinwesens gehe. Und überall, wo neu gebaut wird, „kommt noch mehr Grün dazu...“

Auch der Mühlenteich selbst ist inzwischen ganz grün geworden. Grund: auswärtige BesucherInnen, die ahnungslos Brot- und Pommesreste zu den Enten geben. „Daß da nicht härter durchgegriffen wird“, murrt ein einsamer Angler. „Ein paar Enten, das ist ja ganz schön“, brummelt er unter seinem gravitätischen Cordhut, „aber müssen es Hunderte sein, die den Teich mit ihrem Schietkram verseuchen?“

Es ist eben doch nichts mehr, wie es mal war. Schon ist es wieder Zehn, wie die Turmuhr der gegenüber dem Ententeich malerisch aufgestellten Christuskirche dem Angler unweigerlich anzeigt. Zeit zu gehen: „Sonst stören wir noch die Touristen, oder umgekehrt, was weiß ich...“ Thomas Wolff