■ Debatte
: Pazifistische Lebenslügen

1. Pazifismus funktioniert nur in einem zivilisierten Umfeld. Mahatma Gandhi konnte eine demokratische englische Regierung beugen, Faschisten wie Mladic oder Karadzic gäben ihm schlichtweg die Kugel vor den Kopf.

2. Jeder pazifistischen Praxis muß die Pazifizierung und Demokratisierung der Gesellschaft vorausgegangen sein. Bisher ist Pazifismus ausschließlich unter westlich-demokratischen Rahmenbedingungen eine überlebensfähige politische Strategie.

3. Der Fall von Srebrenica und Zepa läßt sich als Probe aufs Exempel pazifistischer Lösungsstrategien unter anderen Bedingungen betrachten. A la pazifiste wurde die Bevölkerung entwaffnet und von der Weltgemeinschaft geschützt, mit den Serben wurde verhandelt, es wurde auf politische Lösungen gesetzt, Artillerieschläge blieben ungeahndet – alles Deeskalations-Rezepturen aus dem Lehrbuch für den kleinen Friedensfreund. Resultat: Srebrenica ist heute entvölkert, Zepa brennt, Tausende sind vertrieben, vergewaltigt, ermordet.

4. Es gibt keinen westlichen oder bundesdeutschen Masterplan, um eine zusammen-phantasierte Hegemonialsphäre von Bottrop über Bosnien bis nach Basra zu schaffen. Das Unglück der Bosnier ist es, daß eben keine westlichen Interessen – Erdöl, Diamanten, Kupfer etc. – bedroht sind. Andernfalls wäre der Krieg – so oder so – längst beendet. Hegemonien sind nicht mehr geopolitisch in irgendeinem militärischen Sinn, sondern an Rohstofflager gebunden, die Kreditlinien sind an die Stelle der Landbrücken getreten. In Bosnien geht es also nicht um die Dardanellen. Der Vergleich mit 1914 wird vom pazifistischen Diskurs aus innenpolitischen Absichten erzeugt, zu Verdummungszwecken. Festzuhalten ist: Der Angriffskrieg der Serben auf Bosnien begann als erster Nicht-Stellvertreterkrieg seit 1945. Das ist er, infolge der zögerlichen Politik des Westens, leider längst nicht mehr.

5. Das Fehlen jedes Masterplans, jeder Gemeinsamkeit ist das Dilemma und die Schande der westlichen Politik. Alle Beschlüsse haben den kleinstmöglichen Kompromiß zum Inhalt, sind Ausdruck schlecht verkleisterter Widersprüche, des entschiedenen Willens zum Nichthandeln und der Hoffnung auf rasch vollendete Tatsachen. Paranoide Weltverschwörungs- und Imperialismustheorien aus der altlinken Requisitenkammer haben mit dem wirklichen Geschehen nichts zu tun. Sie zeigen nur, daß derartige Argumentationen inzwischen heimatmusealen Wert besitzen. Mentaler Stallgeruch eben – man kennt sich, aber erkennt nichts, weil die Scheiben voller Mist sind.

6. Auch ein Embargo ist Krieg. Im Mittelalter nannte man es Belagerung. In diesen stillen Kriegen, wo keine Kugel schwirrt und das leise Sterben durch den Hunger regiert, ist stets die Zivilbevölkerung das erste Opfer. Die belagerten Truppenteile beschlagnahmen alle vorhandenen Ressourcen, die Zivilisten sterben, ihre Rippen zählend, fürs Vaterland. Wer ein Embargo fordert, darf sich nicht pazifistisch nennen. Er fordert Krieg gegen die Zivilbevölkerung, will aber kein Blut sehen. Schon gar kein deutsches – denn von deutschem Blut und Boden darf nie wieder ein Krieg ausgehen.

7. Es gibt keine Medienverschwörung zugunsten der Bosnier und der westlichen Kriegstreiber an ihrer Seite. Andersherum wird der Blick klarer: Allzuviele Medienvertreter verwenden noch immer unreflektiert das Vokabular des serbischen Faschismus: von der ethnischen Säuberung, von der Evakuierung der Zivilbevölkerung, vom Bürgerkrieg, von den Moslems etc. Wer angesichts der Bilder aus Bosnien von einem „Propagandafeldzug“ der Medien spricht, lügt sich in die Tasche. In den Medien halten sich Interventionisten und Bremser in etwa die Waage. Pazifisten nehmen gleichberechtigt am Diskurs teil.

8. Über Prognosen entscheidet das Nachhinein. Ob eine Intervention zu einem neuen Vietnam oder zu einem drole de guerre würde, kann niemand voraussagen. Ob Türken, ob Habsburger, ob Hitler – historisch wurde der Balkan stets in kürzester Zeit überrannt. Aus der wechselvollen Geschichte folgen der grenzenlose Haß, der dort zwischen den Ethnien herrscht, und die Verwerfungen in der Bevölkerungsstruktur. Deshalb muß die Zukunft des Balkans multikulturell sein – noch ein Grund mehr, um die poly-ethnischen Positionen der bosnischen Regierung zu unterstützen. Neue Erfahrungen müssen über alte Erinnerungen siegen.

9. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges konnte die prekäre Allianz von Humanismus und Pazifismus funktionieren. Heute muß man sich entscheiden. Entweder „Nie wieder Krieg!“ oder „Nie wieder Faschismus!“. Beides zusammen ist auf absehbare Zeit nur als Lebenslüge zu haben. Klaus Jarchow