: Lehrfilm für (den) Lehrkörper
Sex ist spannend, verbotener Sex am spannendsten. Trotzdem geht es in David Mamets „Oleanna“ um ganz anderes: die Illusionen und Verlogenheiten des liberalen Bildungssystems ■ Von Katharina Rutschky
Bevor ich die Verfilmung des Theaterstücks von 1992 sehen konnte, die Mamet selbst unternommen hat, war ich mir sicher, worum es da geht: einen College-Professor und eine Studentin, die ihn beschuldigt, sie sexuell belästigt und diskriminiert zu haben. Der Professor weist das zurück, weil er sich nicht bewußt ist, gegen Lehrkonventionen, gegen Sitte und Anstand, geschweige denn gegen die Gesetze verstoßen zu haben. Die Studentin insistiert und spitzt die Vorwürfe noch weiter zu und erreicht, daß ihre Klage höheren Orts angenommen, der Professor nicht befördert, schließlich sogar entlassen wird.
Das Zweipersonenstück kam auf die Bühne, als die Beschuldigungen von Anita Hill gegen ihren ehemaligen Vorgesetzten Clarence Thomas und die Senatsanhörung noch Gesprächs- und Diskussionsstoff waren. Mamets Theaterstück wurde auch ein Renner, weil es eine unverfänglichere „weiße“ Gelegenheit bot, die Frage „Hat er oder hat er nicht?“ weiter zu erörtern, ja, sich richtig als Parteigänger für den einen oder die andere zu ereifern und nach Herzenslust zu streiten.
Das war im Fall Hill/Thomas, beide African Americans, doch etwas prekär, weil die ganze Gesetzgebung gegen Diskriminierung seit den sechziger Jahren (erweitert um sexuelle Diskriminierung, letzter Unterpunkt: sexuelle Belästigung) ja zuerst darauf zielte, die Gleichstellung der Schwarzen zu befördern. Wer also für Hill war, hätte die Ernennung eines Farbigen zum Bundesrichter verhindert – heikel.
Im Drama zwischen John, dem Professor, und Carol, der Studentin, kommt nun zwar der ganze Apparat zum Einsatz, der an einem idyllischen Oststaaten-College Diskriminierung aufdecken, verhindern und notfalls bestrafen soll, an der ganzen Mechanik werden aber Probleme aufgehängt, die mit der Krise eines in die Jahre gekommenen liberalen Bildungssystems, seinen guten Illusionen und seinen schrecklichen Verlogenheiten zu tun haben und schon rein gar nichts mit sexueller Belästigung. Verständlich mag es sein, daß der deutsche Verleih die in den Vordergrund stellt und im Begleitheft noch Anregungen für einen sensibilisierenden Unterricht bereitstellt; denn Sex ist spannend und verbotener Sex am spannendsten. Falsch ist es trotzdem.
Carol ist eine fleißige Studentin, die trotz aller Mühe in Johns Kurs über Erziehung nur immer Bahnhof versteht. Sie liefert ein Paper ab, das entsprechend benotet wird, und sie entschließt sich spontan, den Professor aufzusuchen. Ein guter Lehrer macht nicht nur Dienst nach Vorschrift, und obwohl John einen Maklertermin hat und keine Sprechstunde für Studenten, läßt er sich auf ein langes pädagogisches Gespräch mit Carol ein.
An der Benotung ihrer Arbeit kann er nichts ändern – aber er macht ihr Mut, indem er von seiner eigenen schwierigen Entwicklung spricht, ihr auch versichert, daß sie bestimmt nicht dumm sei. Die wohlmeinenden Tiraden kommen allerdings sehr geölt von den Lippen des Lehrers, und daß er das Telefon abnimmt – ein Running Gag im ganzen Film –, obwohl Carol meint, ihre Existenz stünde auf dem Spiel, findet man auch sehr ungeschickt, späterhin schon verräterisch.
Trotzdem, John ist von Carols Verzweiflung gerührt, von ihrem pathetischen Appell geschmeichelt: „Lehren Sie mich!“ – und er bietet ihr ein Coaching außer der Reihe an. Er ist so eingebildet, daß er ihr fürs Ende des Semesters die Bestnote verspricht. Wenn er ihr Selbstbewußtsein hebt, ihre Talente freisetzt, und dazu werden ein paar Privatstunden ausreichen, wird Carol keine Probleme mehr haben.
Und warum er das für sie außerhalb der Dienststunden tun will, fragt ihn die Studentin. „Ich mag Sie eben“, antwortet John, und man kann diesen Ausbruch von Sympathie, Mitleid, Hilfsbereitschaft und Gönnerhaftigkeit angesichts der Verzweiflung und Konfusion von Carol gut verstehen. Er ist aber auch weniger als das, er entspricht der Attitüde des liberalen, linken Pädagogen, der an die Talente aller Heranwachsenden glaubt, für Förderung und echte Chancengleichheit eintritt, andererseits aber auch gelernt hat, die Grenzen des Systems mit kultiviertem Zynismus anzuerkennen. So gern wie er unterrichtet, so wichtig sind ihm auch seine Beförderung, sein akademischer Ruf, sein Sohn, seine Frau und das neue Haus, das er sich zum Zeichen seines Fortkommens leisten will.
Das ist zwar alles auch normal, entspricht der Tragik des Lebens, des Älterwerdens zumal und macht John nicht unsympathisch. Was nervt, ist das pausenlose Gerede, mit dem er die objektive Zerrissenheit seiner Existenz, ihre tiefe Doppeldeutigkeit vor sich und seinen Studenten verbirgt, statt sie als Person auch ungescheut darzustellen.
Gegenüber dem Professor hat die junge Studentin den allerdings temporären Platzvorteil existentieller Eindeutigkeit und Radikalität. Dafür macht sie jeden Tag, egal wie entgegenkommend, ja anbiedernd sich Lehrer und Institutionen ihr gegenüber verhalten, die bedrückende Erfahrung, nichts zu sein und nichts zu haben als ihren Willen und die vage Hoffnung, daß sich daran in Zukunft etwas ändern wird.
Die schlechte Note, die Carol für ihr Paper bekommt, könnte der Anfang vom Ende sein; denn ein offenes, liberales Bildungssystem schafft das ratrace um die guten Noten, das Graduiertenstipendium, den Job, das Geld, den Erfolg keineswegs ab. Es vermehrt dagegen die Zahl der Läufer und individualisiert das Risiko des Scheiterns.
Hier greift nun die systemkompatible, keineswegs systemsprengende Ideologie der Diskriminierung mit all ihren Weiterungen wie sexuelle Belästigung, Political Correctness, insofern sie erlaubt, die persönliche Angst an ein Kollektiv zurückzubinden und die Suche nach den Schuldigen zu beginnen. In Bildungseinrichtungen läßt sich der Mechanismus besonders leicht etablieren, weil hier nicht nur Funktionen, sondern Personen und Generationen aufeinanderprallen. „Ich bin aber nicht Ihr Vater!“ hält der Professor der klageführenden Carol einmal entgegen. Oder Ihre Mutter, könnte es auch einmal heißen; denn wenn bei der zwischen Trotz und Verlangen hin und her schwankenden Carol eine rührende Utopie aufscheint, dann in ihrer Sehnsucht nach einer geradezu überirdischen Gerechtigkeit des suum cuique, die einem auch noch die Kränkung erspart, einmal ein Fremdwort nicht zu verstehen. Der Professor ist wirklich kein Gott, das hat Carol aber weniger ihm als sich selbst bewiesen, indem sie ihn gründlich ruinierte.
Nicht, daß er subjektiv im Sinn der Anklagen schuldig wäre, wohl aber irgendwie objektiv. Carol ist (ohne es zu wissen) Dekonstruktivistin in einem Ausmaß, daß man sie anfangs für schizoid hält. Sie versteht nichts, entkleidet Worte und Gesten ihrer konventionellen Bedeutung und der Intentionen ihres Gegenüber und stellt sie damit zur Disposition in einem immer härteren Kampf um ein Deutungsmonopol, den sie schließlich mit Hilfe ihrer „Gruppe“ und der Universitätsgremien ja auch gewinnt. Sonderbar, wie eine auf Vieldeutigkeit, auf einen Reichtum von subjektiv unbewußten Mitteilungen aller Art gerichtete Literaturtheorie zum Handlanger einer neuen Sprachpolizei, von Willkür und Machtpolitik werden konnte. Das Ende vom Lied ist die Schlägerei bei Mamet, bei der beide Protagonisten nur noch verlieren können – es sei denn, man akzeptiert Gewalt als letzten, verzweifelten Versuch einer Kommunikation.
So weit meine Lesart von „Oleanna“. Vom Theaterstück unterscheidet der Film sich bloß durch ein paar dazwischengeschnittene Bilder von Copyshops, Fluren, einem Herrenklo und einem Hotelzimmer. Mal scheint die Sonne durch die Fenster, mal schüttet es wie aus Eimern. An Stellen, die man noch extra abklopfen könnte, donnert es auch. Auf diese filmischen Beigaben hätte ich gern zugunsten von Schauspielern verzichtet, die mehr Ausstrahlung haben als die Bühnendarsteller, die Mamet vom Theater übernommen hat. Mögen echte Filmfreaks verfilmte Zweipersonenstücke auch abscheulich und langweilig finden, so halte ich die Langzeit-Menschenbeobachtung, wie sie Louis Malle zum ersten Mal in „Mein Essen mit André“ ermöglicht hat, für ein genuines Genre, den philosophierenden Film nämlich. Den Professor hätten William Hurt oder Richard Dreyfuss geben können, die Carol nur Winona Ryder. Ohne ihre höhere Unschuld und energische Naivität kommt Carol einfach zu schlecht weg.
„Oleanna“. Drehbuch und Regie: David Mamet. Darsteller: William H. Macy, Debra Eisenstadt. Produzenten: Patricia Wolf, Sarah Green. Kamera: Andrzej Sekula. USA 1993.
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