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„Ich wurde einfach weggeblasen“

Die Opfer der amerikanischen Atomtests sind Parias. Carole Gallagher gibt ihnen jetzt eine Stimme  ■ Von Wolfgang Löhr

Martha Bordoli Laird hält zwei Fotos in ihren Händen. Das eine zeigt ihre Kinder mit Freunden vor der Schule in Twen Springs, Nevada. Auf dem anderen ist die Falloutwolke zu sehen, die auf sie zutrieb. „Sie sagen immer noch nicht ja oder nein, aber sie wissen Bescheid. Warum haben sie diese Bomben ausgerechnet hier in dieser Gegend gezündet und gewartet, bis der Wind in die ,richtigte‘ Richtung wehte, nämlich in unsere?“ Zwei Jahre nachdem die erste Atombombe im Jahre 1951 auf dem Testgelände in Nevada, nahe der Grenze zu Utah und Arizona, gezündet wurde, hatte Martha Bordoli Laird eine Frühgeburt. Die Beine des Jungen waren von den Hüften abwärts völlig zusammengeschrumpft und schwarz. Er starb nach ein paar Stunden. Zwei Jahre später erkrankte der siebenjährige Sohn an Leukämie. Zehn Monate dauerte der Todeskampf. Eine Tochter bekam Haut- und Muskelkrebs. Der Ehemann erkrankte ebenfalls an Krebs. Bei der zweiten Tochter war es die Schilddrüse.

Ground Zero, so heißt in der Sprache der Atomtechniker die Stelle am Boden unmittelbar unter dem Sprengpunkt der Bombe.

„American Ground Zero“ ist der Titel der Dokumentation von Carole Gallagher. Bei ihren Recherchen zur US-amerikanischen Atompolitik stieß die New Yorker Fotografin auf geheime Akten der Atom Energy Commission (AEC). Die Falloutopfer wurden dort als „minder nützlicher Teil der Bevölkerung“ geführt. Das gab den Anstoß: Gallagher wollte die Menschen kennenlernen. Sie gab ihren Job auf und ging nach Utah, dem am stärksten vom Fallout betroffenen US-Bundesstaat. Sie richtete sich in St. George häuslich ein, lebte dort, paßte sich den Gewohnheiten der Einheimischen, in der Mehrzahl Mormonen, an, gewann Freunde und lernte die Lebensgeschichten ihrer neuen Nachbarn kennen. Gallagher wurde zur engagierten Fürsprecherin der Falloutopfer. Zehn Jahre lebte sie dort. Zehn Jahre, sagt sie, die ihr Leben veränderten.

Die Fotografin sprach mit den Soldaten, die in unmittelbarer Nähe den Atomtests ausgesetzt waren oder den Befehl bekamen, über den noch heißen, zu einer braunen Glasur geschmolzenen Ground Zero zu marschieren. Sie lebte zusammen mit den Menschen, den „downwinders“, die in ihren Wohnungen und auf ihren Arbeitsplätzen vom radioaktiven Fallout überrascht wurden. Mit ihrer Dokumentation gibt Gallagher den Falloutopfern eine Stimme.

Am 27. Januar 1951 zündeten die Atomtechniker die erste Bombe auf dem 3.500 Quadratkilometer großen Testgelände in Nevada. In den folgenden zwölf Jahren waren es dann insgesamt 126 oberirdische Atombombentests, die dort durchgeführt wurden. Die Explosionswolken enthielten bei jedem Test soviel Radioaktivität wie 1986 beim Reaktorunfall in Tschernobyl freigesetzt wurde, berichtet Keith Schneider, von der New York Times, der das Vorwort zu der Dokumentation verfaßte. Für ihn war es das „menschenverachtendste wissenschaftliche Versuchsprogramm in der Geschichte der Vereinigten Staaten“. Etwa 250.000 Soldaten wurden dort als „Menschenmaterial“ eingesetzt. Millionen Menschen im Umland waren dem radioaktiven Fallout ausgesetzt. Von offizieller Seite kam nur die Warnung, nicht direkt in den hellen, alles durchdringenden Explosionsblitz zu schauen. Warnungen vor dem radioaktiven Fallout gab es nicht. Wissenschaftler die vor dem Genuß verseuchter Milch warnten, wurden ermahnt oder verloren ihren Arbeitsplatz.

Robert Carter ist einer der Betroffenen. Auf dem Photo hält er ein Bild in den Händen, das ihn mit vierzig seiner Kameraden von der Army zeigt. Aufgenommen am 5. Juli 1957, wenige Augenblicke vor der Detonation der Versuchsbombe Hood, einer Wasserstoffbombe, mit 74 Kilotonnen die größte oberirdische Sprengladung, die innerhalb der USA unter freiem Himmel stattgefunden hat.

„Die Bombe wurde gezündet, und ich wurde einfach weggeblasen, zwölf Meter weiter gegen einen Abhang, und alle Männer mit mir.“ Nach der Explosion war der Overall zerrissen und angesengt, „so heiß war es“, berichtet der Ex- soldat. Danach mußte Carter mit seinen Kameraden an einem Marsch auf Ground Zero teilnehmen: Die Militärs wollten wissen, wie die Soldaten beim Anblick einer Atombombenexplosion „physisch und psychisch“ reagieren. Nach dem „Feldversuch“ kamen die Schmerzen. „Ich hatte einen gewaltigen Sonnenbrand.“ Der Arzt vermutete, es sei die Strahlenkrankheit, „weil mir übel und schwindelig war und ich die Orientierung verloren hatte“. Hilfe konnte der Arzt nicht leisten: „Sie wußten nicht, was sie tun sollten. Sie schauen einfach zu, wie du stirbst.“

Der Fotografin berichtete Carter, als sie durch das Gelände streiften, hätten einige von ihnen Käfige und eingezäunte Grundstücke gesehen. In einigen waren Tiere fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. In anderen Käfigen waren Menschen mit Handschellen an die Gitterstäbe gefesselt. Gallagher kann es nicht glauben, sie hat Zweifel: „Paranoia, Massenhysterie vielleicht.“ Doch im Laufe der Zeit hört sie immer wieder die gleiche Geschichte, jedesmal von Teilnehmern des Hood-Tests: „Da waren Menschen in einem Gehege – ein Maschendraht mit Stacheldraht darauf. Das Haar fiel ihnen aus, und die Haut schien sich abzuschälen. Sie trugen blaue Jeanshosen, aber keine Hemden ...“ Die Militärs reagierten sofort. Die Soldaten, die davon erzählten, kamen zur Behandlung in die Psychiatrie. Ihnen wurde verboten, diese Geschichten weiterzuverbreiten.

Robert Carter ist gebrochen: Eine degenerierte Wirbelsäule und Muskelschwäche fesseln ihn an den Rollstuhl. Er traut sich nicht mehr aus dem Haus, leidet unter Verfolgungsangst. „Klinisch depressiv“, lautet seine Selbstdiagnose.

Martha Bordoli Laird will sich mit dem Tod ihres Sohnes nicht abfinden. Sie fordert Gerechtigkeit und die Einstellung der Atomtests. Ein Senator schickt ihr ein Brief: Von „Lügenmärchen“ und „Falloutpsychosen“ ist dort die Rede. Selbst der Präsident, so schreibt er, schließe nicht aus, „daß einige der Psychosengeschichten von Kommunisten in Umlauf gesetzt wurden“. Der Leiter des AEC, Lewis Strauss, antwortet ihr, „die möglichen Risiken fortgesetzter Waffentests sind von kompetenten Wissenschaftlern sorgfältig abgewogen worden. Sie stellen im wesentlichen fest, daß die Risiken durch die gegenwärtige Zahl der Atomtests gering sind.“ Erst nach 1978 kam ein Teil der Wahrheit nach und nach ans Tageslicht. Aber es dauerte noch bis 1990, bis die Regierung sich entschuldigte und für die „Atomveteranen“ einen Entschädigungsfonds einrichtete.

Carole Gallagher: „American Ground Zero. Der geheime Atomkrieg in den USA“. Elefantenpress. Berlin, 1995, 159 Seiten, geb., 47 Abbildungen, 58 DM

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