: Einmal unten sein, das prägt
Immer mehr Menschen, auch aus der Mittelschicht, erleben vorübergehende Armut. Risiko Nummer eins: den Job zu verlieren ■ Von Barbara Dribbusch
Die Sache mit dem Café war schiefgegangen und hinterließ der Existenzgründerin einen Sack voll Schulden. Was blieb, war der Gang zum Sozialamt in Berlin. Sechs Monate lang lebte die ehemalige Pädagogin und gescheiterte Umsteigerin vom „Sozi“ und landete so in der Armutsstatistik. Kein häufiger Fall, aber dennoch bezeichnend: Immer mehr Menschen geraten vorübergehend in Armut. Und vor diesem Risiko ist auch die sogenannte Mittelschicht nicht mehr gefeit, wie neuere Studien bestätigen.
„Armut ist heute überwiegend ein Problem „normaler“, weder asozialer noch hoffnungslos marginalisierter Menschen“, erklären die Bremer Sozialforscher Stephan Leibfried und Lutz Leisering1. Die Verfechter der sogenannten dynamischen Armutsforschung verfolgten jeweils in den 80er und den 90er Jahren die Armutskarrieren von Bremer SozialhilfeempfängerInnen.
Ihr Ergebnis: Die Hälfte der Betroffenen mußte sich einige Monate bis höchstens ein Jahr lang mit „Stütze“ durchbringen. In den 90er Jahren hatte dieser Anteil sogar noch zugenommen. Gesunken war dagegen der Anteil derjenigen, die länger als vier Jahre ein Leben im Schatten des „Sozi“ fristeten. Es waren nur noch 22 Prozent.2 Fast die Hälfte der Kurzzeit-Bezieher nutzte die Sozialhilfe nur als Überbrückung, bis Gelder von anderen Stellen wie Arbeitsamt, Rente oder Bafög eintrudelten. „Armut und Sozialhilfebezug“ seien zumeist „ein vorübergehender Zustand“ und keineswegs habe sich die Sozialhilfe „in größerem Umfang zu einer rentenähnlichen Dauerleistung entwickelt“, schließen die Bremer Forscher.
Die offiziellen Statistiken weisen in eine ähnliche Richtung: Von den 2,6 Millionen deutschen SozialhilfeempfängerInnen im Jahre 1993 war mehr als ein Drittel erst in jenem Jahr dazugestoßen, fast ein Drittel hatte sich unterdessen vom Sozialamt verabschiedet.
Viele schaffen zwar den Absprung – umgekehrt sacken aber auch Menschen ab, von denen man das früher nicht erwartet hätte. „Das Armutsrisiko reicht bis weit in die mittleren Einkommenslagen hinein“, sagt Soziologe Peter Krause vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Nach seinen Erhebungen war von den westdeutschen Befragten in mittleren Einkommenslagen innerhalb von sieben Jahren immerhin jeder sechste einmal vorübergehend unter die Armutsgrenze gefallen. Auf die gesamte westdeutsche Bevölkerung bezogen, erlebte fast ein Drittel zumeist vorübergehend magere Zeiten.
Die offizielle Armutsgrenze liegt bei 50 Prozent des nach Haushaltsgröße gewichteten Durchschnittseinkommens. Alleinstehende mit einem Nettoeinkommen von weniger als 950 Mark und eine vierköpfige Familie mit weniger als 2.650 Mark (Osten: 1.930 Mark) gelten derzeit als arm.
Die „dynamischen“ ArmutsforscherInnen bestreiten allerdings nicht, daß sich die Not bei bestimmten Gruppen verfestigen kann. So gilt jeder zehnte als dauerhaft arm. Nichtseßhafte, Alkoholkranke und Kleinkriminelle kommen kaum aus ihrem Teufelskreis heraus. Außerdem entwickelt sich in Deutschland eine noch weitgehend unerforschte „ethnische Armut“: Laut DIW leben rund 20 Prozent der AusländerInnen die meiste Zeit unterhalb der Armutsschwelle.
Nicht nur der anhaltende Mangel, auch die Bedrohung durch vorübergehende Not birgt sozialen Sprengstoff. Die Augsburger Soziologin Anita Pfaff3 registriert „das Vordringen der Armut oder der Armutsgefährdung in soziale Gruppen, die früher noch vergleichsweise weniger armutsgefährdet waren (Facharbeiter, Männer, vollständige Familien, Personen mit vergleichsweise besserer Ausbildung), sobald sie mehrere Kinder haben oder arbeitslos werden“. Diese Armut macht auch der Mittelschicht angst.
Risikofaktor eins: Die steigende Arbeitslosigkeit. In der neuesten Sozialhilfestatistik geben 34,8 Prozent (Osten: 63 Prozent) der Betroffenen „Arbeitslosigkeit“ als Ursache an. Noch vor wenigen Jahren hatte nur jeder vierte „Arbeitslosigkeit“ als Grund genannt (Westen). Viele Erwerbslose bekommen aber kein Geld vom Arbeitsamt. Immerhin 300.000 Haushalte müssen ihre Arbeitslosenunterstützung durch Sozialhilfe aufstocken lassen.
Nicht nur die Jobs, auch die Familie garantiert keine soziale Sicherheit mehr. Im Gegenteil: Alleinerziehende machen etwa ein Fünftel aller deutschen Haushalte auf „Stütze“ aus. Mehr als ein Kind zu bekommen ist besonders für junge Familien zum Armutsrisiko geworden. „Auf die Einkommenssituation von Eltern wirkt sich die Zahl der Kinder nachhaltiger aus als Berufsposition und Bildungsstatus“, hat Alois Weidacher vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) festgestellt.3 Die Hälfte der 18- bis 34jährigen Eltern mit zwei und mehr Kindern erreicht laut Weidacher nur ein Einkommen, das nahe am Existenzminimum liegt. Junge Eltern sind meist schlechter ausgebildet und landen in geringer bezahlten Jobs als Eltern, die erst Karriere machen und dann ihr Einzelkind bekommen.
Interessanterweise stellen nicht nur die zu geringen Einkommen, sondern auch zu hohe Kosten und Ausgaben ein neues Armutsrisiko in der Wohlstandsgesellschaft dar. Leisering und Leibfried weisen auf die vielen Überschuldungen hin. Schon ein Konsumentenkredit für Auto oder Wohnung kann Betroffene abstürzen lassen. Dann nämlich, wenn der Schuldner arbeitslos geworden ist und die Bank den Kredit „fällig stellt“. Wem aber die Gehaltspfändung droht, der findet kaum einen neuen Job.
Hohe Mieten gehören gleichfalls zu den neuen Armutsrisiken, vor allem in boomenden Städten. Armut werde zunehmend „ein Problem der Städte“, folgert der Hamburger Soziologe Jens Dangschat2. In Hamburg etwa seien die Mieten bei Neuvermietungen um bis zu 22 Prozent pro Jahr gestiegen, ausgerechnet in der „Boomphase“ der Stadt zwischen 1989 und 1992. „Die Modernisierungsprozesse“, so Dangschat, „beschleunigen die Umstrukturierung der regionalen Wirtschaft, wodurch zugleich vermehrt Armut ,produziert‘ wird“. Reichtum erzeugt Armut. Und die Angst davor. Und die Gewöhnung daran.
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