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Ajatollah Baudrillard

Von der „Virtualität“ zum Blutopfer: Neueste Wendungen eines Meisterdenkers  ■ Von Jörg Lau

In den achtziger Jahren schwamm Jean Baudrillard wie ein Fisch im Wasser. Seine kulturkritischen Beiträge, die damals allesamt um das Gefühl der zunehmenden Unwirklichkeit in der westlichen Welt kreisten, werden bald schon ein Schlüssel zum Verständnis dieser Dekade sein.

Seit einiger Zeit scheint aber das Gefühl einer entgleitenden Wirklichkeit nicht mehr so bestimmend; allenthalben drängen die Ernstfälle, daß man sich zu ihnen verhalte. Schlechte Zeiten für einen Theoretiker wie Baudrillard, dessen Kernbegriffe „Simulation“, „Simulakrum“, „Virtualität“ und dergleichen heißen.

Sollte man meinen. Aber seit Anfang Juni meldet der mal als „Philosoph“, mal als „Soziologe“ etikettierte Baudrillard mit einer regelmäßigen Kolumne in der französischen Tageszeitung Libération wieder den Anspruch an, unsere Zeit in Gedanken zu fassen. Seine Essays wollen nichts weniger als eine intellektuelle „Chronik“ sein. Sie könnten auch, nach den bislang erschienenen Folgen zu urteilen, zur Chronik einer intellektuellen Selbstdemontage werden.

Während des Golfkriegs war Jean Baudrillard mit scharfen Thesen hervorgetreten, die noch ganz im Banne seiner Entwirklichungsdiagnose standen – das Reale verschwinde in seiner medialen Aufbereitung, im Rausch der Echtzeitbilder bleibe dem Wirklichen keine Zeit zu passieren, kurz: „Der Golfkrieg findet nicht statt.“

Das hatte für die weltweit von Ted Turners CNN synchronisierte Fernsehgemeinde eine gewisse Evidenz. Baudrillard artikulierte das Unbehagen in der globalen Fernsehkultur und bot zugleich eine subtile Form der Entlastung – auf dem Wege der Erkenntniskritik. Seine These, daß die Wirklichkeit des Golfkriegs sich vor dem Zugriff unserer Wahrnehmung ins Spiegelkabinett der Medien entziehe, kam den moralischen Schwindelgefühlen der sich täglich zur Prime time herstellenden Öffentlichkeit entgegen: „Die Überzahl von Bildern vernichtet alle Imagination. Im Reich der Bilder gibt es keine Kriterien für das Wahre und das Falsche“ – besänftigende Botschaft für eine Öffentlichkeit, in der selbst die angesehensten Intellektuellen einen reichlich verwirrten Eindruck machten. Wo „Saddam = Hitler“ (H.M.Enzensberger) erscheinen konnte, da mußte eine Lehre überzeugen, die die allgemeine Konfusion zum objektiv notwendigen Zustand erklärte.

Nicht die militärische Zensur, die den Bilderstrom regelte, war nach Baudrillard schuld an der Kombination von Neugier und Stumpfheit, mit der man allabendlich vor dem Kasten saß, es waren die Bilder selbst, es war das elektronische Echtzeitmedium selbst, das uns mit dem Wirklichkeitssinn die Kriterien für wahr und falsch, gut und böse raubte.

Nach diesem spektakulären Auftritt war es ein wenig still um Baudrillard geworden. Lag es daran, daß die neuesten Konflikte der „Neuen Weltordnung“ nicht, wie es zunächst hatte scheinen wollen, dem Muster des Golfkriegs folgten? Bürger- und Stammeskriege in Somalia und Ruanda, „fundamentalistischer“ Terror in Algerien und Ethno-Imperialismus in Ex-Jugoslawien, – die neuen Konflikte nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs konnten eigentlich nicht nach dem Geschmack eines Theoretikers sein, der sich „vom Virtuellen nährt“ (Baudrillard über Baudrillard). Denn was hätte eine allgemeine Medienkritik, wie wir sie von Baudrillard kennen, zu diesen Kriegen Erhellendes zu sagen? Das Problem des Krieges in Ex-Jugoslawien scheint hauptsächlich keines der Wahrnehmung zu sein. „Der Feind als Gegenüber, der persönliche Feind ist verschwunden“, hatte Baudrillard im Golfkrieg diagnostiziert. Heute sehen wir entsetzt zu, wie sich allenthalben ehemalige Nachbarn ohne den geringsten Zweifel als persönliche Todfeinde erkennen und dementsprechend handeln. Was bleibt dem Theoretiker der Simulation, wenn die Wirklichkeit uns allzu nahe auf den Leib rückt? Dieser Krieg verläuft bislang weitgehend unberührt von den Fortschritten der neuesten Militärtechnologie, die im Golfkrieg so großen Eindruck auf die kritische Öffentlichkeit gemacht hatte. Er scheint auch der Medienmacht von CNN zu entgleiten, an dessen Terminvorgaben sich die Golfkriegsstrategen gehalten hatten. Ein medienphilosophisch unerheblicher Krieg also, mehr etwas für außenpolitisch beschlagene Beobachter, die sich auf die komplizierte Interessenlage der darin verwickelten Mächte verstehen. Was also tun? Theoretische Kehrtwende? Nachsitzen in Geopolitik? Vorruhestand?

Ein Imperialismus der Indifferenz

Der „Feind als Gegenüber“ ist wieder da, und damit ist eine Hauptlinie der Baudrillardschen Zeitdiagnose hinfällig: Jedes Opfer eines Snipers ist ein Hohn auf seine These von der Virtualisierung des Sozialen als unausweichliche Grundtendenz der Geschichte. Das ist wahrlich kein Grund zur Erleichterung.

Oder doch? Wer Baudrillards Kommentare zur Weltlage liest, kann eine gewisse Genugtuung nicht übersehen, mit der hier die Selbstzerstörung des Westens („l'Occident“) diagnostiziert wird. Was ist das Projekt „des Westens“ nach Baudrillard heute? „Der Imperialismus“, schreibt er, „hat sein Gesicht gewechselt. Was der Westen heute der ganzen Welt unter dem Deckmantel des Universellen aufzwingen will, das sind nicht seine Werte, die völlig aus den Fugen geraten sind, es ist eben die Abwesenheit von Werten. Überall, wo irgendeine Sonderbarkeit überlebt oder sich behauptet, irgendeine Minderheit, irgendein besonderer Dialekt, eine Leidenschaft oder ein unnachgiebiger Glaube und besonders irgendeine gegnerische Vision der Welt, da muß man eine gleichgültige Ordnung errichten – genauso gleichgültig, wie wir unseren eigenen Werten gegenüber sind. Wir verbreiten großzügig das Recht auf den Unterschied, aber heimlich und dieses Mal unerbittlich, arbeiten wir daran, eine blutlose und gleichgültige Welt hervorzubringen. Dieser Terrorismus ist nicht fundamentalistisch: er ist nur der einer Kultur ohne Fundament. Es ist der Integrismus der Leere.“

Man könnte das etwa in folgende Worte übersetzen: Wir warnen etwas zu selbstgefällig vor den nationalistischen Strömungen in den osteuropäischen und mittelasiatischen Neustaaten. Daß jemand in Tadschikistan es als politischen Auftrag begreift, seine Sprache zu erhalten, wie wir unsere Gewässer, das verstehen wir nicht mehr. Daß ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit für falsch und verwerflich.

Zugegeben, diese Worte sind geliehen. Sie stammen aus einem Text von Botho Strauß, der vor mehr als zwei Jahren Furore machte. Ob Baudrillard den „Anschwellenden Bocksgesang“ gelesen hat? Schwer zu sagen. Fest steht hingegen, daß Strauß seinen Baudrillard gelesen hat. Die vielzitierten Schlußsätze von Strauß' Essay beschworen das Ende der Welt, wie Baudrillard es in den achtziger Jahren beschrieben hatte: „Wir fürchten es, wir wollen es mit aller verbleibenden Macht verhindern und haben doch kein sicheres Mittel zur Abwehr, wenn in unsere abstrakte Welt Bromios, der laute Schrecken, einschlägt und das angeblich so wirklichkeitsbezwingende Gefüge von Simulakren und Simulatoren von einem Tag zum anderen ins Wanken gerät. Die Wirklichkeit blutet wirklich jetzt.“

Die kulturkritische Parallelität mag überraschen: Strauß und Baudrillard sind sich in der Diagnose einig, daß die schlimmsten Schrecken der Gegenwart eben jenen Eigenschaften der modernen Welt entspringen, auf die ihre Verteidiger immer gesetzt haben: Kälte, Sachlichkeit, Wertrelativismus. Daß beiden dabei die Blutmetapher einfällt – Baudrillard hält uns unsere „Blutlosigkeit“ vor, Strauß konfrontiert uns mit den fröhlichen Barbaren, die noch nicht verlernt haben, „Blutopfer“ zu bringen – kann kaum verwundern.

Der Wunsch, die ganze Welt zu einem entleerten Reich der Indifferenz nach unserem eigenen Bilde zu machen, begründet nach Baudrillard „unsere“ Tatenlosigkeit im Balkankrieg, die heimliche, aber tiefgreifende Komplizenschaft „des Westens“ mit „den Serben“.

Die Diktatur der Menschenrechte

Man müsse anerkennen, schreibt Baudrillard, „daß die Serben nicht einfach die Aggressoren sind, sondern unsere objektiven Alliierten bei dieser Säuberung eines zukünftigen, von seinen störenden Minderheiten befreiten Europas und einer zukünftigen Weltordnung, die von aller radikalen Widerrede gegen seine eigenen Werte befreit ist – der demokratischen Diktatur der Menschenrechte und der transparenten Märkte.“

Das Wort von der „demokratischen Diktatur der Menschenrechte“ sollte man sich eine Weile auf der Zunge zergehen lassen. In eine deutliche Sprache übersetzt, heißt das nichts weniger, als daß die „Säuberungen“, Vertreibungen und Massaker eigentlich die Vollendung des Projekts der Moderne sind. Die Komplizenschaft, als die Baudrillard „unser“ Verhältnis zu „den Serben“ darstellt, ist am Ende seine eigene: „Die Serben“ kommen ihm gerade recht für seine Erledigung „des Westens“, denn sie führen dessen Ohnmacht eindrucksvoller vor, als Baudrillard es je vermochte.

Kern dieser Ohnmacht ist, wie er in der Kolumne vom 17. Juli ausgeführt hat, die Unfähigkeit „des Westens“ zum Blutopfer: „Null Tote: Das ist das Leitmotiv des sauberen Krieges. (...) Dies war schon der Fall im Golfkrieg, wo die einzigen westlichen Toten zufällige waren. Immerhin hatte sich dieser als technologische Demonstration bezahlt gemacht, die eine Illusion der Macht (einer virtuellen Allmacht) vermittelte. Im Gegensatz dazu bietet Bosnien das Beispiel einer totalen Impotenz. Und wenn diese Impotenz, die den Serben freie Hand läßt, auch dem unausgesprochenen Ziel dieses Krieges entspricht, so bedeutet sie doch nichts weniger als eine symbolische Kastration des westlichen Kriegsapparates. Armer Westen! (...) Ohnmächtig seiner eigenen Erniedrigung und seiner eigenen Entwertung zu assistieren. Aber diese militärische Lähmung hat nichts Erstaunliches. Sie ist mit der geistigen Lähmung der zivilisierten Welt verbunden. Daß der Westen nicht das Leben eines einzigen seiner Soldaten aufs Spiel setzen kann, könnte man für das Zeichen höherer Zivilisation halten, in der sich sogar das Militär dem Humanitären und dem Respekt vor den heiligen Rechten des menschlichen Lebens verbindet. In Wirklichkeit ist es das genaue Gegenteil, und das Schicksal des virtuellen Soldaten, dieses Soldaten, der keiner mehr ist, ist ein Sinnbild des Schicksals des zivilisierten Menschen, dessen Einsätze und kollektiven Werte weitestgehend verschwunden sind und dessen Existenz für gar nichts mehr geopfert werden kann – denn wir setzen nur Dinge aufs Spiel, die in unseren eigenen Augen irgendeinen Wert besitzen können.“

In den seligen achtziger Jahren ist Jean Baudrillard immer wieder wegen seines vermeintlichen „Zynismus“ angegriffen worden. Man hielt seine Beschreibung der entleerten Welt bedeutungsloser Zeichen für „affirmativ“; man dachte, hier nehme ein unterkühlter Geist Abschied von der Gesellschaftskritik. Groteskes Mißverständnis! Jean Baudrillards Kriegsschriften, von Libération als work in progress publiziert, kreisen um den Verfall der Werte, die Faszination des Blutes und die kulturstiftende Bedeutung des Opfers. Jean Baudrillard ist ein Ajatollah. Der Geist des „Humanitären“, schreibt er, sei Überleben um jeden Preis. „Durch die Orientierung auf das Überleben, das heißt auf ein abergläubisch verlängertes und vor dem Tod beschütztes Leben, wird das Leben ein Abfall, dessen man sich nicht entledigen kann.“

Altmodische Ajatollahs sagen: Sterbt, so werdet ihr leben. Bei Baudrillard heißt es: Sterbt, so werdet ihr real. Ihr werdet nicht länger mehr „virtuelle“ Soldaten sein. Die wirklichkeitsbezwingende Welt der Simulakren und Simulatoren, sie wird plötzlich ins Wanken geraten. Die Wirklichkeit blutet wirklich jetzt.

Ach, die Wirklichkeit! Bluten, wirklich werden! Für uns Intellektuelle, für Menschen also, die sich vom Virtuellen nähren, klingt das fast ein bißchen wie: Ihr werdet in den Himmel kommen. Die wirklichen Soldaten aber wären gut beraten, angesichts unserer Träumereien vom Ernstfall den Rat zu beherzigen, den wir ihresgleichen angesichts der Ajatollahs älteren Typs gegeben haben: Glaubt kein Wort davon!

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