: AWO wollte abkassieren
■ Pflegeversicherungsätze gelten nicht rückwirkend
Bremerhaven Waltraut Levin aus Bremerhaven staunte nicht schlecht, als ihr die Rechnungen der Arbeiterwohlfahrt (AWO) ins Haus flatterten. Seit Ende 1993 besucht ihre pflegebedürftige Mutter tagesweise das Lotte-Lemke-Heim in Bremerhaven – für einen Tagessatz von 70 Mark. Daß dieser Pflegesatz aufgrund der Pflegeversicherung jetzt auf 115,26 Mark erhöht werden sollte, leuchtete Waltraut Levin ein. Doch ein zweiter Blick auf den Brief ließ sie stutzig werden: Die AWO wies mit dem Schreiben nicht etwa auf künftige Zahlungen hin, sondern forderte für 1993, 1994 und die ersten drei Monate des Jahres 1995 eine Nachzahlung von 2.013,06 Mark.
„Eine Unverschämtheit“, schimpft Waltraut Levin. „Die Pflegeversicherung ist erst ab 1995 in Kraft getreten. Im Vertrag steht eindeutig, daß die AWO das Geld nicht rückwirkend geltend machen kann.“ Die Vertragsklausel ist in der Tat eindeutig: „Sofern sich die vorstehend erwähnten Pflegesätze ändern..., kann die Einrichtung den Tageskostensatz erhöhen. In diesem Fall schuldet der Besucher die erhöhten Beträge vom ersten Tag des auf die Erklärung folgenden Monats.“
Auch die AWO bestätigte der empörten Frau, daß sie nicht zahlen müsse. „Eine Dame hat mir am Telefon gesagt, Sie haben Recht, Sie müssen nicht zahlen. Wir dürfen Ihnen das eigentlich nicht sagen. Die Geschäftsführung setzt darauf, daß es Leute gibt, die nicht darüber stolpern und trotzdem blechen“, erzählt Waltraut Levin.
Der Stellvertretende AWO-Geschäftsführer Hartmut Heidenreich, der die Zahlungsaufforderung geschrieben hat, weist diese Behauptung zurück. „Das stimmt nicht. Ich kann zwar verstehen, daß der Eindruck entstanden ist, aber das ist nur dumm gelaufen“, versichert er. Etwa 25 Angehörige seien angemahnt worden, bestätigt Heidenreich. Aber eigentlich will er sich zu dem Vorfall nicht äußern. „Ich hab' da keine Lust mehr, was dazu zu sagen. Ich bin maulig. Das war formal ein falsches Schreiben. Und gut.“ Dafür, daß die AWO für das Jahr 1994 den vollen Pflegesatz für die Pflegeversicherung kassieren wollte, hat er nur eine Erklärung: „Ich wollte mich nur absichern, daß ich versucht habe, das Geld zu kriegen. Gleichzeitig habe ich es aber in der Buchhaltung abgeschrieben. Mir war klar, daß ich das Geld nicht kassieren konnte.“ In seinem Schreiben schlägt der stellvertretende Geschäftsführer allerdings einen anderen Ton an. Er bittet die Angehörigen „um Verständnis“ und um „Überweisung des Differenzbetrages“. „Mündlich hatten wir vereinbart, daß eine Anpassung rückwirkend gemacht werden kann. Ich brauchte das nur zur Komplettierung meiner Akten. Das war vielleicht nicht richtig formuliert“, räumt er ein. Waltraut Levin weiß von einer mündlichen Absprache allerdings nichts.
Daß er nicht geprüft hat, ob der AWO das Geld überhaupt zusteht, gibt Heidenreich zu. „Wir haben keine Rechtsabteilung. Das ist das Thema.“ Inzwischen hat die AWO ihren Irrtum auch den Betroffenen gegenüber eingeräumt und sich entschuldigt. „Und jeder, der trotzdem bezahlt hat, bekommt das Geld zurück“, verspricht Heidenreich.
kes
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