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Keine Beratung mehr unter dieser Nummer

In Frankreich werden erstmals die Gelder für Familienplanung und Sexualerziehung gekürzt  ■ Aus Paris Alex Duval Smith

Mehr als 20 Jahre lang gaben Teenagerinnen in Lille einander handgeschriebene Zettel mit der Telefonnummer 20.06.61.06 weiter. Mädchen in Not wußten: „Da kann ich anrufen.“ Ganz egal, ob es um Ratschläge für die Familienplanung, um anonyme Rezepte für die Pille oder um eine Handvoll Kondome ging. Stets war eine sanfte und diskrete Stimme am anderen Ende der Leitung und die Eltern – das war klar – würden nichts von dem Anruf erfahren.

Ein Aufstand der moralischen Aufrichtigkeit hat diese Gewohnheit gebrochen. Im März schlossen in Lille die meisten „Planning Familial“ ihre Tore. Die Stimme am Telefon ist immer noch freundlich, aber sie kommt vom Band und sagt: „France Télécom informiert, daß dieser Anschluß nicht mehr existiert.“

Seit den 60er Jahren nicht mehr solch ein Widerstand

Mehr als 20 Jahre, nachdem Simon Veil – damals Gesundheitsministerin unter Premierminister Jacques Chirac, dem heutigen Präsidenten – in der Nationalversammlung erfolgreich für die Legalisierung der Abtreibung eintrat, ist das Thema erneut in der Diskussion. Und weil Abtreibungsberatungszentren zugleich die Orte sind, an denen Verhütung erklärt wird, sind die beiden Themen wieder einmal miteinander verwoben.

Jacqueline Barret, die bis März von Lille aus acht Planning Familial in der Region Nord-Pas-de-Calais verwaltete, beschreibt das Klima von Intoleranz, das rechtsextreme Kräfte in der französischen Provinz geschaffen haben. „Seit den 60er Jahren, als wir ganz vorsichtig mit der Familienplanung und -beratung begonnen haben, habe ich nicht mehr solchen Widerstand erlebt“, sagt sie.

Noch ist es nicht soweit, daß die Regierung von Präsident Chirac das „Gesetz Veil“, das im November 1974 nach dreitägiger emotionaler Debatte von der Nationalversammlung angenommen wurde, über Bord wirft. Das hat bisher noch niemand vorzuschlagen gewagt. Nach dem Gesetz kann eine Frau bis zur zehnten Schwangerschaftswoche abtreiben, beziehungsweise „die Schwangerschaft freiwillig unterbrechen“, wie die offizielle Terminologie lautet. Und: Nach der 1982 eingeführten Gesetzgebung werden 80 Prozent der Abtreibungskosten vom Staat ersetzt. Bei Minderjährigen ist allerdings die elterliche Zustimmung Voraussetzung.

Die Verteidiger der Regelung, die im Vergleich mit Großbritannien und den nordischen Ländern eher restriktiv ist, wittern Gefahren. Sie verweisen darauf, daß die finanzielle Unterstützung in den Regionen schrumpft und daß es im Inneren der Regierung von Chirac eine regelrechte Antiabtreibungslobby gibt.

Im Nord-Pas-de-Calais – eine nordfranzösische Region mit vier Millionen EinwohnerInnen – haben fünf von acht Familienplanungszentren im März geschlossen, nachdem ihre 6 Millionen Franc (zirka 1,7 Millionen Mark) Finanzierung auf 2 Millionen (zirka 600.000 Mark) reduziert worden war. UnterstützerInnen der legalen Abtreibung – und besonders des Beratungsdienstes, der Anonymität garantiert – befürchten, daß sich dieses Szenario in ganz Frankreich wiederholt.

Besonders groß ist die Sorge über die Zukunft der Familienplanung in den südfranzösischen Städten, die, wie Toulon, seit Juni von Bürgermeistern der rechtsextremen Front National regiert werden. Der Führer der Partei, Jean- Marie Le Pen, will die Rückerstattung der Abtreibungskosten ganz abschaffen.

Überall in Frankreich haben Antiabtreibungsaktivisten in diesem Jahr eine wachsende Zahl von Sit-ins in Krankenhäusern veranstaltet, sich in Wartesälen an Stühle gekettet und moralischen Druck ausgeübt. Von Frankreichs Gerichten werden sie in der Regel dafür mit Bewährungsstrafen belegt. Als die Regierung im Juni darüber beriet, wie großzügig das diesjährige Amnestie-Ritual zum Nationalfeiertag ausfallen sollte, verlangten die AbtreibungsgegnerInnen ihre Begnadigung – mit Unterstützung des Senats, aber ohne Erfolg. Die Regierung beschränkte die Amnestie auf Parksünder und Raser. Für die Befürworter der legalen Abtreibung bleibt freilich dennoch der schale Nachgeschmack, daß diese Psychoterror-Kommandos beinahe mit derselben Gnade bedacht worden wären wie Parksünder.

Familienplanungszentren – die häufig mit unbezahlten freiwilligen Kräften arbeiten – sind die wichtigsten Orte für Sexualerziehung. Zwei Drittel von ihnen sind berechtigt, Verhütungsmittel auszugeben. Sie sind die einzige Behörde, die Anonymität garantiert. Für Frauen, die ungewollt schwanger wurden, sind sie die erste Anlaufstation. Für das Anrecht auf eine staatlich finanzierte Abtreibung ist eine Bescheinigung dieser Zentren nötig.

Die Planning Familial, die vom „Conseil général“ finanziert werden, einer regionalen Behörde, die über die Ausgaben der Departements wacht, waren in diesem Jahr erstmals von Ausgabenkürzungen betroffen. Barret hält die Kürzungen für politisch motiviert – die zuständige Behörde wird seit dem vergangen Jahr von einem Gaullisten geführt.

„Seit wir geschlossen wurden, müssen schwangere Frauen, die eine Abtreibung erwägen, direkt in die Krankenhäuser gehen – ohne von uns dorthin überwiesen worden zu sein. Das bedeutet, daß manche von ihnen nicht die Rückerstattung bekommen, zu der sie berechtigt sind. Was noch schlimmer ist: Sie machen eine Abtreibung, ohne beraten worden zu sein,“ sagt sie. Und befürchtet, daß sich auch der Wegfall der Sexualerziehung der Zentren irgendwann bemerkbar macht.

Chiracs Ministerinnen: „Reaktionäres Dutzend“

Ein Sprecher des Conseil général des Nord-Pas-de-Calais bestreitet, daß die Versorgung durch die Schließung der Zentren gelitten hat. „Sie wurden geschlossen, weil sie schlecht verwaltet waren und eine Menge Geld verloren haben“, sagt er. „Sie behaupteten, daß sie 40.000 Besuche im Jahr hatten, aber das ist nicht wahr.“

Die regionale Verwaltung habe, so der Sprecher, die Familienplanungsdienste jetzt restrukturiert und den Krankenhäusern angegliedert: „Jede Frau kann völlig anonym die Pille bekommen.“

Barret ist skeptisch über die langfristigen Absichten der Behörde. Besondere Sorge macht ihr der Druck, den Zugang zu Abtreibungsmöglichkeiten zu reduzieren, der ihrer Meinung nach von der französischen Regierung ausgeht. Die Rekordzahl von 12 Frauen, die Präsident Chirac im Mai in die Regierung bestellte, nennen Barret und andere Skeptiker, das „reaktionäre Dutzend“.

1991 schlug die jetzige Gesundheitsministerin Elizabeth Huppert die Einführung eines Zwangs- HIV-Tests vor der Heirat und für Schwangere vor.

Colette Codaccioni, die jetzige Jugendministerin, deren voller Titel „Ministerin für die Solidarität zwischen den Generationen“ lautet, ist die Autorin eines Berichts aus dem Jahr 1993 mit dem Titel „Familienpolitik“. Seine ersten Zeilen sind: „Die Früchte unseres Leibs sind heilig.“ Der Bericht ruft nach Anreizen für Frauen, die ihnen die „Freiheit gebe, bei den Kindern zu Hause zu bleiben“. Codaccioni ist allerdings keine Befürworterin des Lohns für Hausarbeit. Die satirische Wochenzeitung Le Canard Enchainé berichtete jüngst, daß unter ihren ministeriellen Beraterinnen mindestens eine ist, die sich aktiv an Antiabtreibungskampagnen beteiligt.

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