: Das Leben ist ein ungedeckter Scheck
Immer mehr jugendliche Schuldner wandern in den Knast, weil sie Raten nicht zurückzahlen können. Aggressiv locken Banken mit Krediten Schüler, Studenten und Azubis in die Fänge des Geldes ■ Von Constanze von Bullion
Ein warnender Summton. Dann kracht die gelbe Elektrotür hinter uns ins Schloß. Überall Monitore und Kameras, dicke Panzerglasscheiben. Zweimal werden wir durchsucht. Keine Geldscheine, keine Kugelschreiber, nicht einmal Zigaretten dürfen wir mitnehmen: Besuchstag in der Justizvollzugsanstalt Tegel.
Hier sitzen eigentlich die Schwerverbrecher“, sagt Sven Peters*, und es klingt fast ein bißchen stolz. Er selbst ist nur vorübergehend da. „Drei Monate wegen Flucht bei Freigang und Bombendrohung“, erklärt er trocken. „Ich wollte noch eine alte Rechnung bei einem Kumpel begleichen.“
Offene Rechnungen gibt es in Svens Leben mehr als genug. Mit 24 Jahren hat er nicht nur eine lange Liste von Vorstrafen. Er gehört auch zu der ständig wachsenden Zahl junger Berliner, die bis über beide Ohren verschuldet sind.
„Jugendliche mit 20.000 Mark Schulden, das ist bei uns keine Seltenheit“, sagt Bernt Ungerer, Schuldnerberater des Berliner Verbraucherverbands. Einen klassischen Einstieg in eine Schuldnerkarriere, so ermittelte kürzlich eine Studie der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg, bieten Girokonten für junge Leute. 26 Prozent aller jugendlichen Kontoinhaber sind bei ihrer Bank verschuldet, fast jeder fünfte „Problem-Kredit“, so eine Untersuchung der Stadtsparkasse München, entfällt auf die Altersgruppe der 18- bis 24jährigen.
Verfangen im Strudel von Kaufrausch und Raten
Kein Zufall, meinen Schuldenberatungsstellen, denn um keine soziale Gruppe werben Banken so aggressiv wie um die Sparer von morgen. „Kein spontaner Kinoabend oder auch keine supergünstige Einkaufsgelegenheit scheitert in Zukunft daran, daß Sie das nötige Kleingeld vergessen haben“, verspricht Schülern, Studenten und Azubis die Deutsche Bank. „Wenn's mal eng wird“, so die Broschüre weiter, „können Sie mit uns über einen Ratenkredit reden.“ Geschäfts- und Kreditbanken nutzen die Unerfahrenheit junger Kunden oft bedenkenlos aus, „Schulden machen wird leichtgemacht“, warnt Verbraucherberater Bernt Ungerer. Und was viele nicht wissen: Kreditgeschäfte mit Minderjährigen sind illegal. Wer aus dem Deal aussteigt, bevor er 18 ist, muß oft nichts zurückzahlen. Doch so raffiniert sind die wenigsten.
„Ich war gerade 17, da hat mir die Sparkasse für mein Lehrlingsgehalt von 350 Mark 1.000 Mark Dispo-Kredit eingeräumt“, erinnert sich Sven Peters und rückt mit einer akkuraten Bewegung seine schmale Messingbrille zurecht. Säße er nicht in diesem kahlen, videoberwachten Besucherraum, dann würde man den höflichen und wortgewandten jungen Mann mit dem blonden Schnauzbart wohl eher für einen biederen Bankangestellten halten. Sechs Jahre ist es her, daß er – gerade 18 – sein zweites Girokonto bei der Noris-Kreditbank eröffnete. Problemlos wurde ihm ein Überziehungskredit von 2.500 Mark zur Verfügung gestellt. Die Postbank legte wenig später noch mal einen Dispo von 5.000 Mark drauf.
Ein Einzelfall ist das nicht. 30 bis 60 Prozent aller deutschen Azubis, das fand eine Studie des DGB heraus, organisieren sich neben ihrer Lehre eine zweite Einkommensquelle – auch mit Hilfe von Kreditinstituten. „Die Ausbildungsvergütung“, so DGB-Jugendsekretär Marco Steegmann, „reicht oft für den Lebensunterhalt nicht aus.“ Mechthild Ochs vom Deutschen Familienverband berät regelmäßig junge Leute, die im Strudel von Überziehungskrediten, Ratenkäufen und Versandhausbestellungen untergegangen sind. Oft ist es nur Unwissenheit, die Jugendliche und junge Erwachsene dazu treibt, sich zu überschulden. „Das muß nicht sein“, fand Mechthild Ochs und gründete mit Kollegen ein Projekt, das Präventionsarbeit in Schulen und Ausbildungsstätten leistet. In Berlin ist es die einzige Initiative, die Jugendliche über Risiken und Probleme im Bank- und Kreditwesen aufklärt. Und zwar bevor es zu spät ist. Doch bisher ist die Resonanz von Eltern und Lehrern eher flau. „Manchmal“, sagt die 38jährige Diplompädagogin, „habe ich das Gefühl, die wollen solche Katastrophen gar nicht verhindern.“
Kein Überblick mehr über Kredite, Zahlungen, Geld
Die Unterstützung der Familie aber kann entscheidend sein, wenn junge Leute ihre ersten finanziellen und persönlichen Krisen meistern müssen. Und für Sven Peters war soziale Sicherheit ohnehin immer ein Fremdwort. Er ist Sohn einer Alkoholikerfamilie, Heimkind, seit dem 14. Lebensjahr auf sich selbst gestellt. Doch das alte Lied von sozialer Benachteiligung und Ausgrenzung will er nicht mehr hören. „Für mein Leben bin ich selbst verantwortlich“, sagt er trotzig, „Krankenpfleger-, Bäcker-, Fleischerlehre, ich hab' alles angefangen und wieder hingeschmissen. Als meine Konten irgendwann völlig überzogen waren, habe ich meinen ersten ungedeckten Scheck ausgestellt – und es hat funktioniert.“ Was dann kam, war ein Kreislauf von neuen Schulden, undurchsichtigen Geschäften, Käufen mit abgelaufenen Kreditkarten, Betrügereien, schließlich Hehlerei.
Sven kaufte in hemmungslosen Frustkäufen dutzendweise Handys bei der Telekom, bestellte bei Versandhäusern telefonisch Hifi-Anlagen für ein paar tausend Mark, nahm schließlich eine komplette Computer-Anlage für 30.000 Mark im Laden mit – auf Rechnung und ohne den Paß vorzuzeigen. „Ich mußte mir nur 'ne Krawatte und 'nen guten Anzug anziehen, und die haben mir alles gegeben, was ich haben wollte.“
„Solche Geschichten höre ich oft“, sagt Gabi Kaiser von der Beratungsstelle für Straffällige und Haftentlassene in Wilmersdorf. „Viele Schuldner haben irgendwann jeden Überblick über den Umfang der Schulden und die Zahl der Gläubiger verloren.“ Sven Peters holte die Realität jedoch schon bald ein. Eine Woche nach der Geburt seines Sohnes wurde er verhaftet und nach mehreren Betrugsverfahren zu insgesamt zweieinhalb Jahren Jugendknast verurteilt. Doch das war nicht alles. Denn Schulden und Schadenersatzforderungen von Gläubigern und geschädigten Firmen waren damit noch lange nicht beglichen.
Der Schuldenberg führt oft in den Schuldenturm
„Viele Jugendliche verdrängen die Tatsache, daß im Gefängnis nur die strafrechtliche Schuld abgesessen werden kann. Alle zivilrechtlichen Schadensforderungen bleiben bestehen“, sagt Gabi Kaiser, die jede Woche jugendliche Straftäter im Gefängnis besucht. Doch obwohl die endlose Kette von Rechnungen, Mahnungen und Vollstreckungsbescheiden auch dann nicht abreißt, wenn die jugendlichen Schuldner schon hinter Schloß und Riegel sitzen, kümmern sich viele nicht um den täglich wachsenden Schuldenberg. „Nur ein winziger Anteil der Jugendlichen, die mit Schulden im Knast sitzen, läßt sich auf eine Umschuldung ein“, weiß die 37jährige Diplompädagogin. Doch je höher die Schuldenlast ist, mit der die jungen Erwachsenen in die Freiheit zurückkehren, desto größer ist auch die Gefahr, daß sie rückfällig werden: „Die psychische Belastung durch Schulden ist viel schwerwiegender, als junge Haftentlassene wahrhaben wollen.“
Dem Labyrinth entkommt man durch Tilgung
Viele Banken verweigern den Schufa-Spitzenreitern nach ihrer Entlassung ein Girokonto – und ohne Konto gibt es keinen Job. Ein halbes Jahr Festanstellung aber ist Voraussetzung für eine Bürgschaft, die die Gustav-Radbruch- Stiftung Berlin für jugendliche Schuldner übernimmt. Hier werden individuelle Tilgungspläne erstellt, bei denen Gläubiger oft auf 60, manchmal sogar auf 90 Prozent ihrer Ansprüche verzichten. Denn auch die mit dem Eintreiben der Gelder beauftragten Inkassodienste wissen: Eine reguläre Rückzahlung ist bei den meisten Jugendlichen aussichtslos. „Es sind ganz wenige, die sich auf unser Umschuldungsprogramm einlassen können“, weiß Stiftungsmitarbeiter Kurt Kliem, „aber von denen halten fast alle durch.“
Zu diesen wenigen will auch Sven Peters gehören. Am Ende seiner Haftzeit wird ein Schuldenberg von geschätzten 500.000 Mark vor ihm liegen. „Vielleicht“, meint er schulterzuckend, „ist es auch eine Million.“ Wenn hinter ihm die letzte der gelben Elektrotüren ins Schloß gefallen ist, wartet ein zweieinhalbjähriger Sohn auf ihn, eine Ex-Freundin, die von der Sozialhilfe lebt, ein paar alte Kumpels, bei denen wohl nie geklärt werden wird, wer wen übers Ohr gehauen hat.
Und schließlich eine optimistische Betreuerin, die Sven in einer Wohngemeinschaft unterbringen und ihm eine Lehrstelle verschaffen will. „Er wird es schaffen“, davon ist Gabi Kaiser überzeugt. „Ich muß es schaffen“, sagt Sven und fährt sich ein bißchen aufgeregt durch die ordentlich frisierten Haare. Drei Tage nach unserem Gespräch wird er entlassen.
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