■ Die Indianer haben Mexiko nichts zu geben, sagen die einen. „Wir sind alle Indios“, heißt die Antwort der anderen: Im ethnischen Käfig
Während die freche Losung „Wir alle sind Marcos“ noch eine gelungene Retourkutsche auf den Enthüllungsversuch des prominenten Guerilleros war, ist die solidarisch gemeinte Behauptung „Wir alle sind Indios“ nicht nur schlicht falsch, sondern auch überaus bequem – und dennoch zur Zeit sehr in Mode, vor allem im städtisch-mestizischen Mexiko. Eine kollektive Opferidentität wird darin beschworen, die sowohl die Auseinandersetzung mit den eigenen Rassismen behindert wie auch den Blick von der mestizaje, also der kreuz und quer vermischten mexikanischen Gegenwart, auf die sinnlose Frage nach der „wahren“ Identität des Mexikaners (ab-)lenkt. In dem Slogan klingt zugleich eine Sehnsucht an, die angesichts einer rapide faulenden Moderne dazu neigt, indianische Lebensweisen eher mit verklärter Optik denn mit kritischer Neugierde zu betrachten.
Es scheint, als trete heute, im Zuge dieser erneuten Entdeckung des „anderen Mexiko“, an die Stelle des „edlen Wilden“ von einst der „indianische Revolutionär“, der Wege aus der neuen mexikanischen Unübersichtlichkeit weisen möge. Dabei haben die Aufständischen in Chiapas, die seit eineinhalb Jahren zum Katalysator für derlei Sehnsüchte geworden sind, diese Erwartungen stets von sich gewiesen: Sie fordern Teilhabe an der Gesellschaft und nicht Führerschaft, sie wollen nicht Modell, sondern gleichberechtigtes Gegenüber sein in den Debatten und Kämpfen um eine neue, plurale Republik.
War es vor drei Jahren bei den Protesten gegen die 500-Jahr-Feiern vor allem um die prähispanischen Hochkulturen Amerikas gegangen, so hat sich der solidarische Fokus heute zunehmend auf die real existierenden Überlebenden der conquista verlagert. Dies ist zweifellos eines der größten Verdienste der Zapatisten-Guerilla und an sich schon ein Fortschritt im Verständigungsprozeß über die komplexe Beschaffenheit der Nation. Noch aber bleiben es oftmals Projektionen, in denen das indianische Mexiko die Leerstellen der mexikanischen Moderne zu füllen hat und die Indio-Kulturen nicht selten als das verlorene Paradies erscheinen, das es wiederzuentdecken gilt.
Im polemischen Schlagabtausch zwischen zwei durchaus repräsentativen Intellektuellen Mexikos zeichnen sich die Extrempole einer Debatte ab, die es zu vertiefen lohnt – hoffentlich bald auch unter Mitwirkung von indianischen Intellektuellen. Den Auftakt gab der Schriftsteller Héctor Aguilar Camin, konvertierter Ex-Linker und heute fraglos einer der intelligentesten Denker der Regierungspartei PRI, als er in einem Zeitungsinterview den mexikanischen Indigenismus als „gigantische Simulation“ und die so oft gerühmte Konsensdemokratie in den Indianergemeinden als „autoritär“ bezeichnete.
Dabei sind nicht alle seine Argumente so „dumm“ und „rassistisch“, wie seine empörten Kontrahenten behaupten: Das Recht auf Minderheit und Dissidenz führt er an, die unselige Verquickung von Religion und Politik, die Lage der Frauen wie auch die Idealisierung durch die städtischen Mittelschichten, die so die reale Misere geschickt aus ihrer Wahrnehmung ausblende.
Im Zentrum seiner Argumentation steht jedoch die heute fast schon wieder ketzerisch anmutende These, daß die mexikanische Identität keinesfalls an die indianischen Wurzeln, sondern an die mestizaje, die Verschmelzung zu etwas eigenständigem Dritten, gebunden sei. Wobei der nichtspanische Anteil an dieser „besonderen Mischung“ von Aguilar auf sein „kulturelles Erbe“ reduziert oder gar ganz geleugnet wird. Dumm und arrogant aber wird es, wo Camin die Überlegenheit dieser „dritten“, letztendlich doch eher weiß-, denn dunkelhäutigen „Rasse“ postuliert. Die indianischen Gemeinden, so behauptet er, hätten dem Rest des Landes „kaum irgend etwas beizubringen“. Kurz und schlecht: „Die indianische Welt ist die der Unterdrückung, des Mangels, der Entsagungen und des fehlenden Horizonts.“
Eine groteske Behauptung, wenn man bedenkt, daß die mexikanische Moderne sich dieser Tage nun gerade nicht durch übermäßige produktive oder politische Effizienz auszeichnet. Mit einer fast schon geographischen Schere im Kopf werden hier die indianischen Gebiete vom Rest der Nation abgeschnitten, indem Aguilar durchgehend von „uns Mexikanern“ und den „anderen“ spricht.
Den Kontrapart in diesem Disput übernimmt der altehrwürdige Anthropologe Fernando Benitez, der freilich entlang eines ähnlichen Schemas argumentiert – nur umgekehrt. Auch für Benitez gibt es auf der einen Seite die seit 500 Jahren geknechteten Ethnien und auf der anderen Seite den weißen Mann, der diese bis in den heutigen Tag mordet, erniedrigt und alkoholisiert und damit ihrer kulturellen Identität beraubt. Auch hier wieder die fatale Zweiteilung, die als Gegenposition zur offiziellen Geschichtsschreibung zwar verständlich ist, letztlich aber doch wieder in den Käfig der ethnischen Zuschreibungen und Festlegungen führt.
In diesem Sinne ist die Zapatisten-Guerilla EZLN wohl weiter als manche ihrer Sympathisanten. Denn so überlebenswichtig der Kampf um die vielen eigenen Sprachen und Kulturen ist, so geht es bei der zapatistischen Revolte gerade nicht nur um das Bewahren von jahrhundertelang gepflegten Traditionen, sondern darum, in der Gesellschaft mitbestimmen zu können, es geht den Zapatisten um einen – allerdings selbstbestimmten – Wandel. Daß das traditionelle Lebensgefüge nicht immer eine statische Idylle sein muß, zeigt das Beispiel der Frauen. Attraktiv wurde die Guerilla für die jungen Indianerinnen nach ihrer eigenen Aussage besonders deshalb, weil sie ihnen Auswege aus der oftmals repressiven Enge ihrer Dorfgemeinschaften bietet.
Ganz sicher ist der erste Schritt zu einer multikulturellen Demokratie die Anerkennung der indianischen Anderen, der „negierten Zivilisation“, wie der Anthropologe Guillermo Bonfil die mesoamerikanischen Wurzeln im heutigen Mexiko nennt. Bedauerlich aber wäre es, wenn es dabei bleiben würde. Denn weitaus interessanter als die eingangs erwähnte Losung wäre doch die Feststellung: Wir alle sind auch Indios, aber nicht nur Indios. Das „Indianische“ lebt ja keinesfalls nur in jenem Zehntel der Bevölkerung fort, das selbst in offiziellen Kategorien als „indigen“ eingestuft wird, sondern auch in der mestizischen Mehrheit der MexikanerInnen.
Aber ist dann die spanische Eroberung tatsächlich nur als „historische Überstülpung“ zu begreifen, deren Nachkommen an einem chronisch schmerzhaften Identitätsdefizit leiden, wie einige immer wieder behaupten. Sind alle Ansätze mestizischer Kultur tatsächlich nur „degradierte Varianten der europäischen Kultur“, die MestizInnen demzufolge lediglich „desindianisierte Indios“ (Bonfil)? Oder könnte man die mestizaje nicht als fortwährenden Prozeß des Austauschs und der Kommunikation begreifen, der sich aus multiplen Wurzeln speist und in dem die Grenzen fließend sind? Anders gefragt: Wozu braucht man heute, in Mexiko und anderswo, überhaupt noch eine ethnisch fixierte Identität?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen