: China – die geheimste Atommacht
■ Auch nach über 20 Jahren Atomtests sind wesentliche Informationen über die Gefährdung und die gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung nicht bekannt
Berlin (taz) – In den siebziger Jahren versuchten sogar die Fieslinge aus Disneys Mickymaus-Heften vergeblich, nach Lop Nor vorzudringen. Kein Wunder: Kaum etwas in der Welt der internationalen Atomrüstung ist so gut gehütet wie das Atomtestprogramm in dieser westchinesischen Wüstenregion. Über die mindestens 42 Atomtests der chinesischen Regierung finden sich in einschlägigen Handbüchern nur dürre Zeilen, über die gesundheitlichen Folgen der Tests für die vier Millionen Einwohner in der Provinz Sinkiang lassen sich zumeist nur Vermutungen anstellen. China hat bis heute keine unabhängigen Gesundheits- oder Umweltuntersuchungen rund um das Testgelände erlaubt.
Zu den bekannten Fakten: Seit Oktober 1964 hat China in der Wüste Lop Nor im Westen des Riesenlandes mindestens 42mal Atombomben hochgejagt. Hauptquartier ist die Stadt Malan, „Atomic City“. Bis 1979 sind dabei auch 23mal Atomwaffen oberirdisch zur Explosion gebracht worden. Die Chinesen haben sich bis heute, genau wie die französiche Regierung, geweigert, den schon 1963 von den Vereinigten Staaten und der UdSSR vereinbarten Atomteststopp für Tests in der Atmosphäre zu unterschreiben. – 1986 allerdings verkündete China als letzte der fünf Atommächte offiziell das Ende der atmosphärischen Tests. Tatsächlich hat China seit 1969 insgesamt 19mal unterirdisch Atombomben getestet. Die vorerst letzte Explosion zündeten die Chinesen mit feinem Sinn fürs Timing am 15. Mai 1995, drei Tage nach dem Abschluß der Verhandlungen zum Atomwaffensperrvertrag. China verfügt nach Greenpeace-Angaben inzwischen über 450 Atomwaffen, davon sind rund 300 strategische und 150 taktische Sprengköpfe.
Die Internationalen Ärzte zur Verhinderung des Atomkriegs (IPPNW) haben 1992 Zahlen vorgelegt, nach denen in Lop Nor bis dahin 48 Kilo reines Plutonium 239 (3.300 Curie oder 3.300mal 37 Milliarden Bequerell) in die Atmosphäre verteilt wurden. Daneben seien mehrere Millionen Curie Cäsium und Strontium in die Umwelt gelangt. An den Ufern von Chinas wichtigstem Strom, dem Jangtse, wurden alle drei Radionukleide schon gemessen.
Offiziell bekennt sich auch die Volksrepublik inzwischen zum Ziel eines umfassenden Atomteststoppvertrages. Dieser solle bis Ende 1996 ausgehandelt werden, so Staatspräsident Jiang Zemin noch am Sonntag in einer japanischen Zeitung. Doch bis dahin behalte sich seine Regierung weitere Tests vor. Die Rede ist von vier oder fünf.
Die Chinesen testen nach Greenpeace-Angaben Sprengköpfe für zwei neue Raketensysteme, die Ende des Jahrzehnts und Anfang des kommenden Jahrhunderts zum Einsatz kommen sollen. „300.000 Menschen arbeiten in Chinas Atomindustrie, davon 70.000 Wissenschaftler“, so Till Bastian vom IPPNW. Im Mai hatte China neben einer Atombombe auch eine neue Trägerrakete mit 2.000 Kilometer Reichweite ausprobiert.
Greenpeace verlangte gestern einen sofortigen Stopp der Tests und einen wesentlich früheren Abschluß dieses Abkommens. Der Text für das Abkommen liegt prinzipiell vor. In Genf wird seit dem 31. Juli diesen Jahres an einem 97seitigen Vertrag zum völligen Verbot aller Atomtests verhandelt. Noch kämpfen sich die Diplomaten mühsam durch die einzelnen Kapitel: In der vergangenen Woche stritt man darum, ob wirklich alle Tests, auch die ganz kleinen, bei einem umfassenden Atomteststopp verboten sein sollen.
Den Menschen in und um das 100.000 Quadratkilometer große Atomtestgelände von Lop Nor nützt das wenig. Schon 1981 hatte die International Herald Tribune Provinzpolitiker zitiert, die von einem dramatischen Anstieg der Krebsraten bei Haut-, Lungen- und Leberkrebs berichteten. Offizielle Stellen haben schon Mitte der achtziger Jahre eingeräumt, daß bei den Tests selbst nach militärischen Standards nicht immer alles glatt gegangen ist.
So gestand etwa General Quian Xuesen im Jahr 1986 ein: „Es gab einige Tote, aber im allgemeinen hat China möglichen Unfallursachen große Beachtung geschenkt. Es hat keine großen Katastrophen gegeben.“ Offiziell räumte die Volksrepublik China 221 Unfälle mit zwanzig Toten und 1.200 Verletzten ein.
Was die chinesischen Militärs unter großen Katastrophen verstehen, bleibt dennoch unklar. Im Oktober 1986 hatten Atomtechniker des US-AKW Peach Bottom bei Philadelphia auf ein Leck im Reaktor getippt, als ihre Instrumente zu rattern begannen. Der wirkliche Grund für den Ausschlag der Geigerzähler lag 10.000 Kilometer weiter östlich. bei einem Atomtest der Chinesen am 26. September des Jahres war eine radioaktive Wolke in die Atmosphäre geschleudert worden. In Peach Bottom tröpfelte der radioaktive Fallout des chinesischen Atomprogramms. Hermann-Josef Tenhagen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen