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■ Immigration & Literatur LeseprobeAuf der Flucht

Das Oberdeck des Busses war nur halb voll. D. sah geistesabwesend auf einen glänzenden grünen BMW im Ausstellungsraum eines Autohändlers auf der anderen Straßenseite hinunter. Er saß im hinteren Teil des Busses hinter zwei schwarzen Jugendlichen, die angeregt Musik kommentierten, die aus ihrem Ghettoblaster plärrte. Der vertraute, pulsierende Reggaerhythmus drängte sich in seinen Kopf, und D. zwang sich zu entspannen...

Nachdem er Josephs Haus verlassen hatte, war er zur High Street gerannt und in den ersten Bus gestiegen, den er sah. Er wußte, daß er nur wenige Minuten Vorsprung hatte, bevor seine Gastgeber die Flucht bemerkten. Bis zu dem Augenblick, an dem Joseph die Ware gekostet hatte, war er noch unsicher, was er tun sollte. Er mochte die beiden Männer nicht, und es war ihm klar, daß sie ihn nicht so behandeln würden, wie er es erwartete. Er dachte an die Konsequenzen, denen er sich jetzt stellen mußte; in einem fremden Land auf der Flucht vor der Posse, der Gang, ohne jede Rückendeckung und ohne Versteck. Er wußte von Anfang an, daß er nur als Kurier benutzt wurde, doch ihm war es vor allem darum gegangen, von Jamaika fortzukommen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Lancey ihn erwischte, und das allein war Grund genug, von der Bildfläche zu verschwinden. Er glaubte, er fände schon einen Weg, ins Geschäft zu kommen, wenn er erst mal in England war. Vielleicht würde er für die Ranks arbeiten, die ihn vom Flughafen abholten. Diese Möglichkeit schloß er allerdings sofort aus, als sie ihn beleidigten, indem sie ihn wie einen Laufburschen behandelten. Entweder wußte Joseph über ihn Bescheid und hatte ihn absichtlich respektlos behandelt, oder aber Skeets hatte „vergessen“, seine Vergangenheit zu erwähnen.

Während er in Gedanken noch debattierte, was er tun sollte, erkannte D., daß er eine letzte Chance zur Flucht hatte. In seinem eigenen Revier hätte er die Dinge in die Hand genommen und diesen Typen beigebracht, wie man einem Star wie ihm Respekt erwies. Vorläufig jedoch besaß er nur eine einzige Trumpfkarte, und die würde er keinesfalls vergeuden. Da er immer noch fast ein Pfund reines, erstklassiges Kokain besaß, spürte er jetzt die prickelnde Erregung der Gefahr in seinem Rückgrat. Er wußte, daß sie ihn jagen würden, und da er die Unbarmherzigkeit seiner ehemaligen Bosse nur zu gut kannte, würde er sein gesamtes Geschick und all seine Erfahrung einsetzen müssen, um am Leben zu bleiben. Zunächst brauchte er einen Zufluchtsort, einen sicheren Platz, von dem aus er operieren konnte. Er war überzeugt, mit ein paar unabhängigen Partnern und einigen zuverlässigen Soldaten eine gute Chance zu haben, es zu schaffen.

„Sie müssen hier raus, Chef.“ Die Stimme des Jugendlichen holte ihn in die Gegenwart zurück. „Jeder von den beiden Bussen bringt Sie nach Hackney.“

D. bedankte sich bei den beiden Möchtegern-DJs, ging die Treppe hinunter und verließ den Bus. Er folgte einer Gruppe Leute, die gerade in einen anderen roten Doppeldecker einstiegen. Nachdem er eine Fahrkarte gelöst hatte, suchte er sich einen Platz etwa in der Mitte des unteren Decks. Mit einem Zischen und Aufheulen des Motors fädelte sich der Bus in den Verkehr ein.

Unmittelbar nach der Flucht hatte D. instinktiv zunächst nach Brixton fahren und Sammy aufsuchen wollen. Damals in Kingston waren sie Schulfreunde gewesen, und D. wußte, daß er sich auf ihn verlassen konnte, wenn's drauf ankam. Schon vor Jahren hatte Sammy Jamaika verlassen, um seiner Mutter nach England zu folgen. Vergangenes Jahr war er auf einen kurzen Besuch zurückgekehrt und hatte D. seine Adresse gegeben. Trotz der inzwischen verstrichenen Zeit und der räumlichen Entfernung standen sich die beiden jungen Männer immer noch nahe. Nach wie vor existierte dieses Band zwischen ihnen, diese tiefe Loyalität, die im selben Viertel aufgewachsene Jamaikaner ein Leben lang aneinanderschweißt. Sammy hatte erzählt, daß er jetzt als Mechaniker arbeite und Frau und drei Kinder habe. Er wohnte in Brixton, weil es da „die meisten „Yardmaan“ gab. Es war genau diese Information, die D. veranlaßte, seinen ursprünglichen Plan zu ändern; sie würden natürlich damit rechnen, daß er als erstes in Brixton auftauchte. Er war viel zu clever, um einen solchen Fehler zu begehen. Außerdem wollte er Sammy nicht in Schwierigkeiten bringen.

D. wußte, daß er sich früher oder später mit Joseph und wem auch immer, die sie ihm noch nachschickten, auseinandersetzen mußte, doch er beabsichtigte, Zeitpunkt und Ort selbst zu bestimmen. Er brauchte einfach nur ein bißchen Zeit, um sich auf den Showdown vorzubereiten. Abgesehen von Sammy, gab es im ganzen Land nur noch eine andere Person, die nichts mit der Organisation zu tun hatte und ihm helfen konnte.

Auch Donna hatte Jamaika vor mehreren Jahren verlassen, nachdem einer ihrer Verwandten ihr die Chance bot, nach London zu kommen und in seinem Catering-Unternehmen zu arbeiten. Zwischen ihr und D. bestand eine tiefe Bindung. Donna war sein erstes Mädchen gewesen. Normalerweise bedeuteten die kurzen Affären der Kindheit nicht sehr viel im Ghetto, wo die Jungs nur daran interessiert waren, so viele Mädchen wie möglich zu bumsen. Das gehört zum Aufwachsen auf der Straße einfach dazu, und Gefühle werden bei diesen Geschichten nicht erwartet. Zwischen Donna und D. war es allerdings irgendwie anders gewesen. Obwohl beide neue Beziehungen angefangen hatten, war doch die tiefe Vertrautheit, die sie als Kids zusammen erlebt hatten, die puppy love oder Schwärmerei füreinander, die sie überhaupt erst zusammengebracht hatte, nie wirklich verschwunden. Mit verstreichender Zeit und zunehmender Erfahrung war D. bewußt geworden, daß Donna einer der sehr wenigen Menschen war, denen er bedingungslos vertrauen konnte. Victor Headley

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