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Der Regierung den Schlaf rauben

Das türkische Staatssicherheitsgericht quält sich mit einem ungewöhnlichen Prozeß: In Istanbul werden 99 Verleger des Buches „Freiheit dem Gedanken“ angeklagt  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Heute beginnt vor dem Staatssicherheitsgericht Istanbul der Prozeß gegen 99 türkische Bürger, die gemeinsam ein Buch unter dem Titel „Freiheit dem Gedanken“ veröffentlicht haben. Das Buch war ein Sammelband von bereits vorher publizierten Schriften, deren Autoren polizeilicher und gerichtlicher Verfolgung ausgesetzt waren. In dem Sammelband wurde der Spiegel-Essay des türkischen Schriftstellers Yasar Kemal, aufgrund dessen er angeklagt ist, ebenso veröffentlicht wie ein Zeitschriftenartikel des Gewerkschafters Münir Ceylan, der ihm über ein Jahr Gefängnis eingebracht hatte. Neben anderen, meist prominenten „Straftätern“ sitzt der türkische Soziologe Ismail Besikci im Gefängnis ein.

Die Initiatoren des inkriminierten Buches „Freiheit dem Gedanken“ gingen von dem einfachen Gedanken aus, kollektiv Straftaten zu wiederholen, um die Absurdität der repressiven Strafparagraphen, die kritische Gedanken zum kurdischen Konflikt unter Strafe stellen, bloßzustellen. Ausnahmslos alle Texte in dem Buch sind wegen „staatsfeindlicher“ Haltung in der Kurdenfrage staatsanwaltschaftlich oder per Urteil der Staatssicherheitsgerichte zu Straftaten erklärt.

Nach türkischem Recht sind die Verleger ebenso straffällig geworden wie die Autoren. Da die Mehrzahl der Autoren bereits verurteilt sind, müßten auch alle Verleger mit dem gleichen Strafmaß bestraft werden – das waren bei der Erstveröffentlichung der einzelnen Artikel immerhin 1.080 Personen. Anklage erfolgte bislang gegen 99 Personen, die sich als Verleger beim Staatssicherheitsgericht selbst anzeigten, damit der Prozeß möglichst rasch beginne. Mehrjährige Gefängnisstrafen drohen jedem Angeklagten.

Der heutige Prozeßbeginn vor dem Istanbuler Staatssicherheitsgericht bringt die Regierenden in Bedrängnis. Sie hoffen nämlich auf die Ratifizierung der Zollunion zwischen der Türkei und der Europäischen Union durch das Europaparlament und geben zu diesem Zweck ein Demokratisierungsversprechen nach dem anderen ab.

Geht alles „Rechtens“ zu, müssen die 99 Verleger als „Terroristen“ aufgrund des Paragraphen 8 des Antiterrorgesetzes verurteilt werden, der „separatistische Veröffentlichungen“ unter Strafe stellt.

Die Anwendung des geltenden Rechtes – also die Verurteilung der Angeklagten – scheint dem Staatsanwalt des Staatssicherheitsgerichtes, Aytac Tolac, Kopfzerbrechen zu bereiten. Es ist einmalig in der Geschichte des Staatssicherheitsgerichtes, daß der Staatsanwalt beantragte, das Verfassungsgericht anzurufen, um die Frage zu prüfen, ob der Artikel 8 des Antiterrorgesetzes nicht verfassungswidrig sei.

Nach jahrelanger beruflicher Tätigkeit, in welcher Tausende von Menschen aufgrund des Paragraphen 8 des Antiterrorgesetzes verurteilt wurden, hat der Staatsanwalt plötzlich entdeckt, daß der Gesetzesparagraph vielleicht verfassungswidrig sei, weil er der von der Türkei ratifizierten Europäischen Menschenrechtskonvention widerspreche.

Falls das Verfassungsgericht angerufen wird und entscheidet, daß der Paragraph 8 verfassungswidrig ist, könnte die türkische Ministerpräsidentin Tansu Çiller aufatmen – die Abschaffung des Paragraphen 8 ist ein Kernstück ihrer Demokratisierungsversprechen an den Westen.

Çillers sozialdemokratischer Koalitionspartner, die Republikanische Volkspartei, drohte sogar, die Koalition zu verlassen, falls der berüchtigte Paragraph nicht abgeschafft wird. Doch bislang verhinderten die Falken in Çillers Partei des Rechten Weges die Gesetzesinitiative zur Reform des Antiterrorgesetzes. Sie argumentieren, eine Liberalisierung ebne den Weg für einen kurdischen Staat. Çiller selbst weiß dagegen, daß eine Abschaffung des Paragraphen 8 keine Wende in der staatlichen Kurdenpolitik bedeutet. Unzählige weitere Strafrechtsparagraphen, die nicht zur Debatte stehen, bieten weiterhin ein effizientes Repressionsinstrumentarium gegen Kritiker der staatlichen Kurdenpolitik. Den umstrittenen Paragraphen 8 des Antiterrorgesetzes auf juristischem Wege durch das Verfassungsgericht abzuschaffen böte Çiller die Chance, ihr angeschlagenes Demokratie-Image aufzubessern.

Doch die angeklagten 99 Verleger des Buches „Freiheit dem Gedanken“ wollen sich mit Makulatur nicht zufrieden geben. „Wir haben uns nicht auf den Weg gemacht, nur um den Paragraphen abzuschaffen. Wir fordern, daß jedweder Gedanke nicht bestraft wird“, sagt der Komponist Sanar Yurdatapan, einer der Initiatoren der „kollektiven Straftat“. „Für wen ist es gefährlich, wenn wir allesamt in den Knast gesteckt werden? Jede Nacht, die wir im Gefängnis verbringen, werden wir ruhig schlafen. Doch die Regierenden werden um ihren Schlaf gebracht.“ Das hofft auch der Autor dieser Zeilen, der Mitangeklagter im heutigen Prozeß ist.

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