Die Deutschen als Serientäter

■ Der Journalist Wolfgang Michal rechnet hoch, wann wir die Welt mit dem nächsten Krieg überziehen werden. Schwacher Trost: Es bleiben noch 30 Jahre

Wolfgang Michal schlägt mit seinem Buch „Deutschland und der nächste Krieg“ einen groben Pflock in die Auseinandersetzung über die Konsequenzen eines deutschen, von der UNO sanktionierten Militäreinsatzes außerhalb des Nato-Gebiets. Die Debatte wird hierzulande natürlich heftig geführt: Die Deutschen sind gebrannte Kinder ihrer kriegerischen Vergangenheit. Diese Vergangenheit, so Michal, ist auch ihre Zukunft. Für ihn steht fest: „Die Geschichte des Deutschen Reiches wiederholt sich.“ Die wiedervereinigte Großmacht in der Mitte Europas suche erneut die Gelegenheit zum ganz großen Schlag. Er will die ersten Anzeichen dafür hochrechnen, parallel zur Geschichte des Kaiserreiches.

Michals Buch legt die Annahme einer historischen Verschwörung, einer schicksalhaften Prägung der Deutschen nahe. Seine Kritik der neuen deutschen Großmannssucht fußt ironischerweise auf den gleichen Nationalstereotypien wie die Theorien jener imperialen Vordenker, die er anzugreifen vorgibt: Die „eigentliche deutsche Passion“ sei das „Verlangen nach mehr“, und das „Traumziel der Deutschen, ein Imperium Romanum zu errichten“. Ein „ewiger Dreisprung: zuerst Europa, dann die Welt, dann Krieg“ leite die deutsche Machtpolitik; eine „fixe Idee, die zur ewigen Wiederkehr des Gleichen führt, zu Krieg, wird seit der Entstehung Deutschlands im 10. Jahrhundert mit sturer Beharrlichkeit verfolgt.“

Seit 1992, diagnostiziert Michal, sei ein Paradigmenwechsel von der „nationalen Identität“ zum „nationalen Interesse“ festzustellen und damit verbunden eine Wende vom „Primat der Innen- zum Primat der Außenpolitik“. Der Begriff des „nationalen Interesses“ ist aber doch, möchte man einwenden, einer rationalen Debatte zugänglicher als die verschwommene Rede über „Identität“. Und warum soll ausgerechnet das Kaiserreich angesichts einer „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ die Vorlage für einen neuen deutschen „Dreisprung“ sein? Nur weil 1871 und 1990 Jahre der Einheit sind?

Michal bedient sich zur Bekräftigung seiner Kontinuitätsthese eines Buchtitels, der bereits einen 1912 erschienenen Bestseller schmückte. Es war das Buch des Generals Friedrich von Bernhardi, der darin unter dem Motto „Weltmacht oder Niedergang“ den deutschen Aufbruch zur Weltgeltung beschrieb: Ausschaltung Frankreichs, Gründung eines mitteleuropäischen Staatenbundes unter deutscher Führung und Gewinnung neuer Kolonien. Für Bernhardi und eine Reihe anderer Publizisten im Kaiserreich war der Krieg der notwendige Durchbruch zur Weltmacht, der befreiende Schlag gegen die „Einkreisung“ durch andere Mächte. Der einzige Unterschied zu Bernhardi aus Michals Sicht: Wir befinden uns heute nicht zwei, sondern noch 30 oder 40 Jahre vor dem nächsten Krieg.

Der Weg dahin führe wie damals über Europa. Die Übermacht der Bundesrepublik in Europa sei schon jetzt offensichtlich, und in der Weltpolitik arbeite sie zur Zeit eine Tagesordnung ab, deren Erfüllung ihr die Insignien einer Weltmacht einbringen werde: den ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat, eine global agierende Armee, die Mitverfügung über Atomwaffen, die Verbreitung einer eigenen Weltsprache und die Attraktion einer Weltstadt. Klassisch-wilhelminisch sei auch die Wahl der Einflußsphären: Osteuropa/Rußland, der Orient, Schwarzafrika und China. Den großen Krieg erwartet Michal, wenn Deutschland durch eine weltweite Etablierung von Freihandelszonen und durch die dabei anfallenden Handelskriege erneut die Luft zu dünn wird.

Muß es so kommen? Nach Michal ist jeder deutsche Schritt vor die Tür – ob politisch, ökonomisch oder militärisch – ein Déjà-vu mit dem Kaiserreich, ein Schritt zum großen Krieg. Die Fixierung auf dieses Menetekel blockiert schon im Ansatz eine differenzierte Sicht. Denn Michals Konzeption ist hinter der sachlichen Fassade des geschichtlichen Faktenvergleichs spekulativ und unhistorisch. 1990 kam die Einheit nicht durch „Eisen und Blut“ wie 1871 zustande. Und die 1914 erneut vorgenommene kriegerische „Flucht nach vorn“ (Hans-Ulrich Wehler) aus einem unerledigten Widerspruch zwischen dynamischer bürgerlich-industrieller Gesellschaft und rückständigem preußisch- deutschem Obrigkeitsstaat ist gleichfalls nicht auf die Bundesrepublik übertragbar. Solche Details interessieren Michal ebensowenig wie die Bedeutung Hitlers: Er hat den Deutschen die Lust am Krieg ausgetrieben. Unter seiner Anleitung haben sie bereits jene „schwarze Messe“ zelebriert, die Michal kommen sieht.

Die internationale Einbindung der Bundesrepublik und ihre demokratische Verfaßtheit schätzt Michal gering. Er wischt die erreichte Demokratisierung nach 1945 als möglichen Einwand gegen einen Rückfall in den „Wilhelminismus“ leichterhand beiseite. Zurück bleiben Mutmaßungen über die Deutschen als „Serientäter“.

Wenn es aber eine deutsche Kontinuität gibt, dann ist es diese Sorte irrationalen, völkischen Denkens, die im Kaiserreich die Deutschen als „Helden“ gegen die angelsächsischen „Krämer“ oder in der Hitlerzeit als „Herren-“ gegen slawische „Untermenschen“ ausspielte. Heute läßt Michal die Deutschen wieder gegen den Rest der Welt antreten, als ewige Bösewichter. Aber es waren weder genetische noch geopolitische Zwänge, welche die Deutschen auf Expansion und Militarismus festlegten. Bestimmend waren die gesellschaftlichen und politischen Strukturen des preußisch-deutschen Reiches, die zugleich eine realistische Diskussion und Abwägung nationaler Interessen verhinderten.

Seit 1945 ist dieser Abschnitt deutscher Geschichte vorbei. Am angelsächsischen Vorbild haben wir gelernt, auf den vernünftigen Diskurs zu setzen, auch in bezug auf „nationale Interessen“. Der Rückgriff auf angeblich nationale Konstanten des deutschen Wesens, der Geopolitik, der Nation und so weiter, auch in der Form des schwelenden Selbsthasses à la Michal, verhindert eine rationale Debatte über Sinn und Unsinn einer deutschen Teilnahme an einer internationalen, von der UNO legitimierten Eindämmung von Aggressionen und nationalistischen Massakern. Joachim Oltmann

Wolfgang Michal: „Deutschland und der nächste Krieg“. Rowohlt Berlin 1995, 144 S., 29,80 DM