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Wer tötete Schleyer?

■ Vor 18 Jahren soll sie den Arbeitgeberpräsidenten Schleyer entführt haben. Ab heute steht Sieglinde Hofmann vor Gericht

Berlin (taz) – Mehr als 15 Jahre nach ihrer Verhaftung muß sich die frühere RAF-Aktivistin Sieglinde Hofmann ab heute erneut vor Gericht verantworten. Verhandelt wird an angemessenem Ort: im Prozeßbunker von Stuttgart-Stammheim. Im Zentrum der Anklage steht der Kulminationspunkt der inzwischen fast 25jährigen Auseinandersetzung zwischen der „Roten Armee Fraktion“ und dem Staat: die Entführung und Ermordung Hanns Martin Schleyers im Deutschen Herbst 1977. Die Karlsruher Bundesanwaltschaft wirft Sieglinde Hofmann vor, zu dem vierköpfigen RAF-Kommando gehört zu haben, das den Arbeitgeberpräsidenten am 5. September 1977 im Kölner Stadtteil Braunsfeld entführte und seine vier Begleiter erschoß.

Die Detailversessenheit, mit der die Anklagebehörde den blutigen Anschlag in der Klageschrift zu rekonstruieren versucht, scheint denjenigen recht zu geben, die glauben, daß es der Bundesanwaltschaft in diesem Verfahren um mehr geht als um juristische Aufarbeitung. In der weit über hundert Seiten starken Klageschrift gegen die inzwischen 50jährige werden auch den anderen drei mutmaßlichen Mitgliedern des Entführungskommandos ihre Tatbeiträge zugeordnet. Zu dem Kommando zählten danach Stefan Wisnieski und Peter-Jürgen Boock, beide wegen der Schleyer-Aktion schon zu lebenslanger Haft verurteilt, und Willy Peter Stoll, der 1978 bei einem Festnahmeversuch erschossen wurde. Die Detailfreude der Bundesanwaltschaft geht bis hin zur Zahl der von jedem einzelnen Kommandomitglied abgegebenen Schüsse. Während des nur zweiminütigen Überfalls auf Schleyers Wagenkolonne feuerten die Täter fast 120 Schüsse ab. Im Körper des Leibwächters Reinhold Brändle fanden die Ärzte bei der Obduktion 60 Schußverletzungen, seine Kollegen Roland Pieler und Helmut Ulmer trafen jeweils über 20 Kugeln.

Auch das letzte große Geheimnis des Entführungsdramas wollen die Karlsruher Ankläger gerichts- und geschichtsfest machen: Wer tötete Hanns Martin Schleyer am 18. Oktober 1977? In der Nacht zuvor hatte die Anti-Terror-Einheit GSG 9 insgesamt 90 Geiseln aus der von einem palästinensischen Unterstützer-Kommando entführten Lufthansa-Maschine „Landshut“ im somalischen Mogadischu befreit. Am Morgen waren die RAF-Gründer Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Hochsicherheitstrakt von Stuttgart-Stammheim tot aufgefunden worden. Für die Ankläger stehen die letzten Begleiter Schleyers fest: Stefan Wisniewski und Rolf Clemens Wagner. Im Kofferraum eines Audi 100 schafften sie ihre Geisel aus einer konspirativen Wohnung in Brüssel über die französische Grenze ins elsässische Mulhouse und erschossen ihn „durch drei Schüsse in den Kopf“. Auch den Todesschützen glaubt die Bundesanwaltschaft zu kennen: Rolf Clemens Wagner.

Ob es sich so zugetragen hat, wie die Bundesanwaltschaft vorträgt, wird der fünfte Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart unter seinem Vorsitzenden Kurt Breucker ab heute herauszufinden versuchen. So klar, wie es sich in der Anklageschrift liest, liegen die Dinge wohl nicht. Die Karlsruher Erkenntnisse basieren auf einer „Lebensbeichte“ des Kommandomitglieds Peter-Jürgen Boock aus dem Jahr 1992 und umfassenden Geständnissen der früheren RAF- Mitglieder, die 1990 im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung in der früheren DDR aufgestöbert worden waren.

„Kronzeugenprozesse“, heißt es kategorisch in einer von Hofmann-Anwalt Heinz-Jürgen Schneider mitgezeichneten Erklärung, „haben keine Legitimität“. Schließlich gewähre das Kronzeugengesetz großzügige Strafnachlässe „für Verrat und die erfundene Belastung anderer“. Für das bevorstehende Verfahren entscheidender scheint jedoch die Tatsache, daß Sieglinde Hofmanns unmittelbare Beteiligung an der Schleyer-Entführung von den RAF-Aussteigern keineswegs so unzweideutig behauptet wird, wie es die Anklagebehörde gerne hätte. Zwar zählen die DDR-Aussteiger Hofmann durchweg zu den „Führungskadern“ der RAF in jener Zeit. Doch sind die Aussagen zur Zusammensetzung des Kölner Kommandos widersprüchlich – auch andere Namen werden genannt – und basieren meist nicht auf unmittelbaren Kenntnissen der Zeugen, sondern auf mehr oder weniger plausiblen Rückschlüssen.

Peter-Jürgen Boock wiederum weigerte sich während seiner bald 15jährigen Haft beharrlich, seine Ex-Genossen namentlich zu belasten. Doch sein Versuch, nicht zum „Verräter“ zu werden, wurde spätestens nach 1990 Makulatur. Immerhin lagen nun die umfangreichen Geständnisse der DDR- Heimkehrer vor. Der systematische Abgleich aller damaligen Aussagen, kombiniert mit den Detailschilderungen Boocks, machte die Liste der Haupt-Tatverdächtigen immer kürzer. „Subtraktionsverfahren“ nannte Boock selbst 1992 die Methode, der sich die Bundesanwaltschaft seither mit detektivischem Eifer bedient.

Die 1990 vom damaligen Generalbundesanwalt Alexander von Stahl durchgesetzten „Kronzeugenprozesse“ gegen ein halbes Dutzend bereits verurteilter RAF-Gefangener lösten seinerzeit auch innerhalb der Behörde Widerspruch aus. Gegner der nachgeschobenen Prozesse fürchten ein Wiederaufleben der Anschläge der RAF oder von den „Antiimperialistischen Zellen“, wenn die Ankläger durch einen maßlosen Strafanspruch neue Märtyrer schaffen. In einer Unterstützer-Erklärung für Sieglinde Hofmann heißt es, der Staat wolle „über das Jahr 2000 hinaus politische Gefangene in der BRD“ produzieren. Die Bundesanwaltschaft konterte die Kritik stets unter Hinweis auf das „Legalitätsprinzip“, das die neuen Verfahren zwingend vorschreibe. Gerd Rosenkranz

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