Mafiamord in Sizilien

„Unorthodoxe“ Gruppen töten die Frau eines Bosses und fordern die Cosa nostra heraus  ■ Aus Catania Werner Raith

Verkleidung nach Krimiart als Polizisten; vier Schüsse, dann die Flucht ohne Spuren – eine Exekution ganz à la Mafia, so schien es den Ermittlern auf den ersten Blick. Einer der unzähligen Morde, die seit einem halben Jahr, nach dreijährigem „Waffenstillstand“ unter den Clans, Sizilien tagtäglich beunruhigen. Doch das Opfer dieses Mordes in Catania im Osten der Insel ist nicht irgendeiner der kleinen Bosse oder Mitläufer, auch kein unbequem gewordener Killer oder Zuarbeiter – das Opfer ist die Frau eines der mächtigsten regionalen Mafiabosse. Carmela Minniti, Gemahlin von Nitto Santapaola, der Nummer zwei in der Cosa- Nostra-Hierarchie, hatte sich offenbar aufgrund der hohen Stellung ihres seit Mai 1993 verhafteten Mannes so sicher gefühlt, daß sie jederzeit allein ausgegangen und herumgefahren war und daher auch ihre Tochter arglos die Tür öffnen ließ, als die Männer Einlaß begehrten.

Auf den zweiten Blick gibt der Mord zahlreiche Rätsel auf. Undenkbar, daß die Bluttat aus den eigenen Reihen kommt – für derlei wäre eindeutig ein Beschluß der „Cupola“, des obersten Leitorgans der Mafia, vonnöten gewesen, und dieses wird sich hüten, den gefährlichsten aller Mafiakiller im Gefängnis zu reizen. Immerhin kennt er alle Geheimnisse auch über die dominierenden Gruppen in Palermo, mit denen er sich vor zwanzig Jahren verbündet und damit die alte Hierarchie seiner Heimatstadt Catania ausgehebelt hat.

Auch ein persönlicher Racheakt scheidet nach Ansicht der Ermittler aus: Zu blutrünstig hatten die Leute aus dem Clan Santapaola sogar eher mickrige Verletzungen ihrer „Ehre“ geahndet. Als einst vier halbwüchsige Straßenräuber aus Versehen der Mutter Santapaola die Handtasche wegrissen, griffen sich die Brüder Nitto und Nino vier Jungen im Alter von elf bis 15 Jahren, die sie für die Täter hielten, folterten sie und warfen sie lebendig in einen fünfzig Meter tiefen Brunnen, wo sie erst Jahre danach gefunden wurden.

So gehen die Ermittler eher davon aus, daß es sich entweder um die Tat „unorthodoxer“ Mafiagruppen handelt, die sich dem bisher alles beherrschenden Cosa- Nostra-Syndikat entgegenstellen, oder um Eindringlinge aus Kalabrien, die endlich auf der Insel Fuß fassen wollen: eine regelrechte „Kriegserklärung“ ans Mafia- Establishment. Dafür spricht auch ein gewisser Dilettantismus, der bei der Tatausführung zutage kam: Vier Schüsse aus nächster Nähe – von denen allerdings nur zwei das Ziel trafen, danach auch nicht der rituelle „Gnadenschuß“ der Mafia – möglicherweise haben die Täter nicht einmal bemerkt, daß Frau Santapaola noch lebte, als sie davonstürmten.

Die Frage ist nun: Hat der durch die Haft geschwächte, schwer diabeteskranke Boß Nitto Santapaola noch die Kraft, Rache zu üben – dann wird wieder eines der Massaker beginnen, von denen Sizilien in den letzten zwei Jahrzehnten nicht weniger als vier mit mehr als 3.000 Toten erlebt hat.