: Viel weniger ist mehr
■ Senatorin Bergmann für „New Deal“ in der Arbeitszeitpolitik. Wahlarbeitszeit soll Freiheiten bringen.
Nur noch drei Tage in der Woche arbeiten oder die nach Australien ausgewanderte Tante für zwei Monate besuchen? So ähnlich könnte die Zeitplanung eines Arbeitnehmers in Zukunft aussehen, sollten die Vorschläge des „Berliner Memorandums zur Arbeitszeitpolitik 2000“ Wirklichkeit werden. Zum Auftakt des zweitägigen Kongresses zu den Perspektiven der Arbeitszeitpolitik stellte gestern Arbeitssenatorin Christine Bergmann (SPD) die vom Beirat „Arbeitsmarktpolitik“ der Senatsverwaltung erarbeitete Denkschrift vor, die empfielt: weniger ist mehr.
Arbeitszeitverkürzung in Verbindung mit weiterer Flexibilisierung sei die „beschäftigungspolitisch bedeutendste Strategie“, um mehr Menschen Arbeit zu verschaffen, lautet die These der Autoren aus Politik und Wissenschaft. Laut Prognosen werde trotz Wirtschaftswachstum auch im Jahre 2000 die Erwerbslosenzahl in der Bundesrepublik noch bei fünf bis sechs Millionen liegen. Eine gerechtere Verteilung der Arbeit durch kürzere Beschäftigungszeiten sei darum unabdingbar, erklärte Bergmann. Bis zum Jahr 2000, so die Senatorin, soll deshalb die durchschnittliche Jahresarbeitszeit von gegenwärtig 1.700 Stunden auf 1.500 Stunden reduziert werden. Dadurch könnten bis zu 1,7 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Allerdings sei eine Verkürzung der individuellen Arbeitszeiten bei einem vollen Lohnausgleich nicht durchführbar, sagte Volker Meinhardt vom Deutschen Institut für Wirtschaftforschung.
Gleichzeitig müßten die Arbeitszeiten flexibler gestaltet werden, erklärten die Autoren des Memorandums. Durch sogenannte „Wahlarbeitszeiten“ könnten die Beschäftigten ihr Leben selbstbestimmter gestalten und Beruf und Familie besser in Einklang bringen. Eine Reduzierung der Arbeitszeiten könnte dann etwa zu einer Umverteilung der Haushaltsaufgaben führen.
Auch die Unternehmen würden von flexibleren Erwerbszeiten profitieren, könnten sie doch ihre Maschinen länger laufen lassen und die Produktion steigern. Deshalb müßte aber die Organisation in den Betrieben erneuert werden, beispielsweise die Selbstverantwortung der Mitarbeiter durch Gruppenarbeit erhöht werden. Unsoziale Arbeitszeiten, wie Wochenend- und Nachtarbeit sollten vermieden werden. Außerdem könnte eine gesamtgesellschaftliche Flexibilisierung der Arbeit auch die tarifrechtlich umstrittene Teilzeitarbeit verringern helfen. In dem Memorandum wird weiter ein stufenweiser Übergang in den Ruhestand sowie die Möglichkeit zu Bildungs-, Eltern- und Sabaturlaub gefordert. Ole Schulz
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