Verkehrt rum auf die Welt

Gesichter der Großstadt: Werner Fuß, Mitbegründer der Irrenoffensive, ist tot / Er befreite Patienten aus der Psychiatrie und suchte nach Alternativen  ■ Von Dorothee Winden

Jeder kannte ihn, das kleine, hutzlige Männlein, das sich so leicht nicht abweisen ließ. Mit ungeheurer Hartnäckigkeit bot er die Zeitschrift der Irrenoffensive an und bat um Spenden für die Anti- Psychiatrie-Gruppe. Werner Fuß, der rastlose Handverkäufer, hatte die Selbsthilfegruppe 1980 mit gegründet.

Er, der selbst unzählige Male aus psychiatrischen Anstalten abhaute und sich ein wenig stolz als „Ausbrecherkönig“ bezeichnete, hat später vielen zur Flucht aus der Klapse verholfen: Wenn er Patienten besuchte, erhielten sie einen Besuchsschein, mit dem sie das Klinikgebäude verlassen konnten. Durch irgendein Schlupfloch gelang es ihnen dann auch, das Gelände zu verlassen. Werner Fuß bekam deshalb in diversen Kliniken immer wieder Besuchsverbot, „wegen Gefangenenbefreiung“, wie es ein Wachbeamter der Nervenklinik Spandau einmal ausdrückte.

Manchmal reiste Fuß sogar nach Westdeutschland, um dort Bekannte aus der Psychiatrie rauszuholen. Vielen bot er in seiner Schöneberger Wohnung vorübergehend Unterschlupf.

Ende Juli ist der 47jährige gestorben, zunächst unbemerkt. Nach vier Tagen fiel den Nachbarn der Verwesungsgeruch auf, sie benachrichtigten die Polizei. Die Todesursache ist bislang ungeklärt. Der Obduktionsbericht steht noch aus. Seine Mitstreiter von der Irrenoffensive erfuhren erst vor zwei Wochen von seinem Tod.

Werner Fuß wurde 1948 als einziges Kind eines Schusters in Andenhausen geboren, einem 280- Seelen-Dorf in Thüringen. Er selbst sagte über sich, er sei „verkehrt rum auf die Welt gekommen“ – mit den Füßen zuerst. Schon als Kind hat er Ablehnung erfahren. Wegen seiner Sprachbehinderung wurde er von seinen Mitschülern gehänselt. Weil er erst mit acht Jahren sprechen lernte, landete er auf der Sonderschule. Eine Ausbildung hat er nie bekommen.

Doch hatte er wohl den Drang, etwas aus seinem Leben zu machen. Das elterliche Haus lag nur 5 Kilometer von der Zonengrenze entfernt. Mit siebzehn flüchtete er das erste Mal über den Todesstreifen in den Westen. Doch die Behörden schickten ihn zurück. Werner Fuß gab nicht auf, mit Anfang Zwanzig gelang ihm erneut die Flucht. Er kam bei einem Onkel im Rheinland unter, geriet dann jedoch in die Psychiatrie. Zwölf Jahre lang war er in verschiedenen Anstalten untergebracht. Die Freiheit, die er sich mit seinen Ausbrüchen ertrotzte, war immer nur von kurzer Dauer. Früher oder später wurde er wieder aufgegriffen und zurückverfrachtet.

Schließlich wurde ihm die Entlassung in Aussicht gestellt, wenn er Arbeit und Wohnung vorweisen könne. Beides fand er schließlich bei der „Sozialistischen Selbsthilfe Köln“ (SSK), einem Kollektiv, das sich als Lebensgemeinschaft verstand.

„Wenn es für ihn ein ,wir‘ gab, lebte er auf“, sagt Thomas Dräger, der Psychologe, der ihn als Einzelfallhelfer acht Jahre lang begleitete. Anfang der achtziger Jahre nahm Werner Fuß Kontakt zu den Hausbesetzern in der Bülowstraße auf und wohnte dort für längere Zeit. Nach der Wende unterstützte er Hausbesetzer in Mitte, übernachtete dort, „wenn es brenzlig wurde“. Zeitweise ließ er Hausbesetzer bei sich wohnen. Immer wieder nahm er auch Drogenabhängige auf und versuchte, mit ihnen einen Entzug zu machen. „Er wollte immer anderen Menschen helfen“, so ein Freund. Mit den Junkies ging es aber schief.

Werner hatte ein „sehr starkes Gerechtigkeitsempfinden“, sagt Thomas Dräger. „Das war sein Leitmotiv.“ Werner Fuß ist am 30. Januar 1948 geboren, dem Tag, an dem Gandhi erschossen wurde. „Ich sehe da eine Verbindung“, sagt Dräger. Werner habe sehr zornig auf Ungerechtigkeiten reagiert. „Dann hat er die Faust geballt und mit der anderen Hand hat er die Faust festgehalten, um nicht loszuschlagen.“

Bei psychiatrischen Einrichtungen galt er als „hoffnungsloser Fall“. Aber er hatte unbändige Energien. Nach Berlin kam er, weil er keinen Vormund mehr wollte. In Westdeutschland waren seine Versuche, die Entmündigung rückgängig zu machen, achtmal gescheitert. In Berlin, wo dies etwas lockerer gehandhabt wurde, gelang es ihm endlich. 1980 gründete er zusammen mit anderen Psychiatrie-Erfahrenen die Irrenoffensive. Er wollte es den Psychiatern zeigen. Er wollte ihnen zeigen, daß es auch andere Wege gibt, als Menschen in der Psychiatrie einzusperren und mit Medikamenten vollzupumpen.

„Die Irrenoffensive war sein Leben“, sagt sein Mitstreiter René Fricke. „Er hat Ideen reingebracht, für manche war er ein harter Partner“, sagt Dräger. Aber er schreckte mit seinen Wutausbrüchen auch neue Gruppenmitglieder ab. Als er im Sommer vergangenen Jahres nach heftigen Auseinandersetzungen mit dem neuen Vorstand aus der Irrenoffensive ausgeschlossen wurde, hat ihn das schwer getroffen.

„Wenn es kein ,wir‘ mehr gab, hing er in den Seilen“, sagt Dräger über Fuß. Dann griff er zur Flasche, betrank sich, um zu vergessen. „Manchmal rief er mich an und sagte sehr langsam und abgehackt: Ich kann nicht mehr!“, erzählt Dräger. Er habe es nicht ertragen, abgelehnt zu werden, als Mensch nicht ernst genommen zu werden. „Das wollte er vergessen. Doch unter Alkohol kamen die Erinnerungen aus der Psychiatrie hoch. Das war der totale Horror.“

„Er fühlte sich vereinsamt“, sagt Alexander Schulte von der Irrenoffensive. In der letzten Zeit habe Werner sehr viel getrunken. Weil er trotz Alkohols nicht schlafen konnte, nahm er Schlaftabletten. Zu Dräger sagte er zuletzt ganz sachlich, er wolle „die Erde verlassen“. Ob es Selbstmord war, sagt Schulte, wisse man aber nicht.

Fuß' Freunde wollen sich am kommenden Donnerstag um 11 Uhr auf dem Friedhof der Eythstraße mit einer Trauerfeier von ihm verabschieden. Die Urne wird im Familiengrab in Andenhausen beigesetzt.