: Schleppender Abzug aus Sarajevo
■ Bosnische Serben benötigen angeblich mehr Zeit zum Abzug der schweren Waffen. Die bosnischen Regierungstruppen erobern weitere Städte. Banja Luka: Mehr als 60.000 Flüchtlinge drängen in die Stadt.
Sarajevo (AP/taz) – Während die bosnischen Serben am Wochenende nur in schleppendem Tempo Teile ihrer schweren Waffen aus der Umgebung von Sarajevo abzogen, erzielten die bosnischen Regierungstruppen und ihre kroatischen Verbündeten im Westen des Landes weitere Geländegewinne. Der Vormarsch in Richtung Banja Luka löste eine weitere Massenflucht bosnischer Serben aus. In der Stadt selbst herrschte nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR Chaos. Alle Straßen seien mit Fluchtfahrzeugen verstopft, berichtete UNHCR-Sprecher Mans Nyberg.
Die bosnischen Serben hatten sich verpflichtet, bis Sonntag 22 Uhr alle schweren Waffen aus der 20-Kilometer-Sicherheitszone abzuziehen. Sollten sie sich nicht daran halten, will die Nato nach dreitägiger Pause wieder mit Luftangriffen auf militärische Stellungen der bosnischen Serben beginnen. US-Verteidigungsminister William Perry, der sich in Slowenien aufhielt, und der US-Unterhändler für Bosnien, Richard Holbrooke, auf Vermittlungsmission in Belgrad und Sarajevo, bekräftigten die Drohung.
Bis gestern nachmittag hatten die Serben erst etwa ein Drittel ihrer 200 schweren Geschütze aus der Sicherheitszone gebracht, wie ein Sprecher der Vereinten Nationen in Sarajevo mitteilte. UN- Sprecher Chris Vernon gab darüber hinaus bekannt, daß die bosnischen Serben zusätzlich 82-Millimeter-Mörser und 100-Millimeter- Geschütze abziehen müßten. Zunächst waren nur Waffen größeren Kalibers in die Vereinbarung miteinbezogen worden.
Holbrooke erklärte gestern in Zagreb, der serbische Präsident Slobodan Milošević habe ihm zugesagt, daß auch kleinere Geschütze abgezogen würden. „Wir haben Fortschritte in der Frage der Kaliber gemacht“, sagte Holbrooke. Das Mißverständnis bezüglich der Kaliber sei durch einen Fehler im Entwurf der Vereinbarung zustande gekommen. UN- Generalsekretär Butros Butros- Ghali hat Holbrooke am Samstag seine Unterstützung zugesagt. Der UN-Jugoslawien-Vermittler Thorvald Stoltenberg nannte Holbrookes Plan die letzte Chance für Sarajevo.
Die Truppen der Muslime und Kroaten nahmen nach Angaben des bosnischen Rundfunks gestern die Städte Sanski Most und Prijedor ein, beide etwa 30 Kilometer westlich von Banja Luka. Am Samstag hieß es noch, die Regierungstruppen und ihre Verbündeten stünden vor den Außenbezirken der Städte. In den vergangenen Tagen hat die bosnische Armee damit mehr als 4.000 Quadratkilometer Land erobert. UN-Sprecher Chris Gunness zufolge sind die Regierungstruppen aufgrund der Gebietsgewinne bald in der Lage, eine Pufferzone im Westen entlang der kroatischen Grenze zu bilden. Nach den jüngsten Frontverschiebungen halten die bosnischen Serben noch 55 Prozent des Territoriums im Vergleich zu den vorherigen 70 Prozent. Laut Plan der Bosnien-Kontaktgruppe stehen ihnen 49, der kroatisch-muslimischen Föderation 51 Prozent zu. Die UNO hatte Muslime und Kroaten kritisiert, weil sie die Bombardierung der Serben zu einer Großoffensive genutzt hätten.
In Banja Luka bahnt sich ein neues Flüchtlingsdrama an. Ein Sprecher der bosnischen Serben vor Ort bezifferte die Zahl der Flüchtlinge mit 100.000, ein Rot- Kreuz-Mitarbeiter sprach von etwa 60.000. In der von den bosnischen Serben gehaltenen Stadt herrsche das totale Chaos, sagte Nyberg. Autos, Traktoren und Pferdefuhrwerke seien auf allen Straßen. „Alle Zufahrtswege in die Stadt sind blockiert“, fügte er hinzu. Auch Schafherden versperrten die Straßen. In Schulen, Pflegeheimen und Kasernen eingerichtete Notunterkünfte seien überfüllt.
Unterdessen wurden die Hilfsflüge nach Sarajevo weiter fortgesetzt. Wie das Bundesverteidigungsministerium in Bonn mitteilte, beteiligte sich auch die Bundeswehr an den Hilfsflügen. Dazu starteten von Italien aus wieder Transall-Maschinen.
Die kroatischen Behörden in Knin, der ehemaligen „Hauptstadt“ der Krajina-Serben, haben am Samstag etwa 800 Serben die Ausreise in Richtung Belgrad erlaubt. Die Frauen, Alten und Kinder hatten nach der Rückeroberung der Krajina durch die kroatische Armee Anfang August Zuflucht bei den UN-Truppen gefunden. 35 Personen wurde die Ausreise auch weiterhin verwehrt. Sie sollen sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben und nun unter Aufsicht von UN-Beobachtern verhört werden.
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