: Halb Europa, halb Asien
Auch Bukarest hatte „Goldene Zeiten“. Doch die kulturelle und ethnische Vielfalt wurde ausradiert. Was den rumänischen Nationalisten nicht gelang, vollendete der Diktator Ceaușescu ■ Von Keno Verseck
Das Bukarester Telefonbuch sagt, was die Geschichtsbücher über die Stadt zumeist verschweigen. Auf kaum einer Seite fehlen Namen von Menschen, deren Vorfahren aus West- und Osteuropa, aus dem gesamten Balkan und Vorderasien stammen: Feintuch, Goldștain, Rosentzwaig und Morgenstern; Herschkowitschs in fünferlei Schreibweisen, ebenso viele Covacis, Farcas' und Mihalys; Schmidts und Șmidts; Kaizer, Kremer, Meyer, Schulze; Șerif, Mehmet, Mladen, Hapciuc, nicht zu reden von den Hunderten Armeanus, Ghermans, Grecus. In den Geschichtsbüchern heißt es lapidar: „Die Mehrheit in Bukarest bildeten von Anfang an die Rumänen.“
„Rumänien liegt am Kreuzweg zwischen West und Ost und Nord und Süd. Darum können sich wahrscheinlich wenige Leute im Sinne ihrer Vorfahren hunderprozentige Rumänen nennen. Auch ich kann das nicht sagen“, so beginnt Nicolae Ștefanescu seine Geschichte. Sein Urgroßvater, ein Wiener Arzt namens Nikolaus Auerbach, kam vor 140 Jahren nach Siebenbürgen und ging später in die Moldau. In Rumänien, das sich damals vom ottomanischen Einfluß zu lösen suchte, wurden europäische Fachkräfte willkommen geheißen. Der Sohn des Nikolaus Auerbach gründete gegen Ende des Jahrhunderts ein Bauunternehmen in Bukarest. Es war die Zeit, als in der rumänischen Hauptstadt große repräsentative Bauten und neue Boulevards errichtet wurden. Der Enkel des Wiener Arztes, Stephan Auerbach, lernte bei einem Bukarester deutschen Meister das Schneiderhandwerk, nahm nach dem Ersten Weltkrieg die rumänische Staatsbürgerschaft an, heiratete eine Rumänin und machte eine Schneiderfirma auf. Sein Geschäft befand sich gegenüber dem Königspalast, in einem Haus, das längst abgerissen ist.
Heute, als Rentner, schwärmt Nicolae Ștefanescu von seiner Kindheit und Jugend im Bukarest der dreißiger Jahre, als wäre es die beste aller Zeiten gewesen. Saubere, beleuchtete Straßen, Theater, Film, griechische Restaurants, türkische Konditoreien, das Kaffeehaus gegenüber der Rechtsfakultät. Für Nicolae Ștefanescu war es gewiß die „Goldene Bukarester Zeit“. An das, was dann später kam, erinnert er sich nur mit Bitterkeit.
Noch 1944, kurz nachdem Rumänien aus dem Bündnis mit Hitler ausschied und auf die Seite der Alliierten übergewechselt war, wurde die deutsche Schule in Bukarest aufgelöst. Nach dem Krieg kamen alle Deutschen im Land auf sowjetische Deportationslisten, ganz gleich, ob sie Kriegsverbrecher waren oder nicht. Familie Auerbach versteckte sich in Bukarest, bis die Deportationen aufhörten. Die Familie änderte mit Hilfe von rumänischen Freunden und bestechlichen Beamten heimlich ihren Namen – von Auerbach in Ștefanescu, nach dem Vornamen des Vaters. „Auf der Straße sprachen wir dann nicht mehr deutsch“, sagt Nicolae Ștefanescu, „zu Hause noch manchmal.“
„Was ist Bukarest heute? Eine fremde Stadt... Sie war eine christliche, rumänische Stadt. Man sah kein nicht-rumänisches Firmenschild auf der Lipscanistraße. Heute sind diese die seltensten.“ So schrieb der rumänische Nationaldichter Mihai Eminescu im Jahre 1880. Der Mann, der ein großer Hasser der Juden und Ungarn war, arbeitete zu jener Zeit als Redakteur im Handelsviertel von Bukarest, ausgerechnet in der Covacistraße, deren Name – in der rumänischen Schreibweise des ungarischen Wortes für „Schmied“ – daran erinnert, daß hier Siebenbürger Schmiede, meist Ungarn oder Deutsche, ihre Waren anboten.
Auch sonst war das Handelsviertel nie rein rumänisch gewesen, wie Eminescu in seiner Empörung wähnte. Bis ins 18. Jahrhundert hatten sich in Bukarest meist Türken, Griechen, Armenier, Bulgaren, Serben und Albaner angesiedelt. Roma waren, wie überall in den rumänischen Fürstentümern Moldau und Walachei, Sklaven der Bojarenfamilien und Klöster. Ab Mitte des vorigen Jahrhunderts kamen aus dem Habsburgerreich Juden, Ungarn und Deutsche in die Stadt. Bukarest bot ihnen schnellere und bessere Verdienstmöglichkeiten und brauchte sie: Juden entwickelten das Finanzsystem weiter und trugen entscheidend zur Industrialisierung der Stadt bei. Deutsche ließen sich als Handwerker nieder. Ungarische Bauern aus dem Szeklerland verdingten sich als Bauarbeiter in der schnell wachsenden Metropole, und ihre Frauen genossen Ansehen als ausgezeichnete Hauswirtschafterinnen. Um die Jahrhundertwende verzeichnete die Statistik von 282.000 Einwohnern 40.000 „Austroungaren“ und 50.000 „Israeliten“. Ende der dreißiger Jahre lebten laut einer Volkszählung 80.000 Juden in der Stadt.
Vor allem sie prägten das Leben in Bukarest, nicht nur wirtschaftlich, auch kulturell. Hier gab es das erste und lange Zeit einzige jiddische Theater der Welt und 60 Synagogen. Jüdische Architekten wie Marcel Iancu wirkten an einer experimentell-avantgardistischen Gestaltung der Stadt mit, die sie noch heute zu einem in Europa einzigartigen Ort für moderne Architektur macht. Jüdische Künstler wie Tristan Tzara und Urmuz waren Mitbegründer und Wortführer der rumänischen Avantgarde.
Damit sollte bald Schluß sein. Besessen vom Wahn eines ethnisch reinen Großrumäniens, gingen Politiker und Intellektuelle der extremen Rechten zunehmend erfolgreich gegen alles Nichtrumänische an. Am Ende der dreißiger Jahre war es in Bukarest verpönt, im „modernen Stil“ zu bauen. Der rumänische Neotraditionalismus setzte sich durch. Jüdische Künstler kamen auf schwarze Listen, die in Bukarester Buchläden und Bibliotheken aushingen. In der Sfinta-Vineri-Straße, wo heute eine von noch vier Bukarester Synagogen steht, mußten alle Juden ihren Besitz abgeben und dem Staat übereignen. Im Januar 1941 verwüsteten Mitglieder der faschistischen Eisernen Garde das jüdische Viertel. Sie hängten Juden an Haken im Bukarester Schlachthof auf und sangen dazu christliche Lieder. Ein Philosoph der extremen Rechten, Mircea Vulcanescu, schrieb: „Eine Hauptstadt wird erzielt werden, aus der die Vorherrschaft des sumpfigen, des balkanischen Elementes, verschwinden wird.“
Was bei Mircea Vulcanescu und anderen weitgehend Programm blieb, führte der nationalkommunistische Diktator Ceaușescu ein halbes Jahrhundert später aus: Er machte die Stadt Stück für Stück dem Erdboden gleich. Um die Mitte der achtziger Jahre war fast die Hälfte des historischen Bukarest abgerissen. Der Diktator ließ sich einen viereinhalb Kilometer langen Boulevard und einen Palast errichten, der heute Europas größtes Gebäude ist. Es war ein gigantisches Projekt zur Ausradierung der Vielfalt und der Vergangenheit. Als erstes walzten die Bulldozer das jüdische Viertel nieder. Fünf Jahre nach dem Sturz des Diktators ist das offizielle Bukarest stolz auf die antlitzlosen Fassaden des monströsen Palastes. In Informationsbroschüren über den „Palast des Parlamentes“ steht geschrieben: „Bei seinem Bau wurden nur rumänische Materialien verwendet.“
In jenem Teil des alten Bukarest, den der Diktator nicht mehr niederreißen lassen konnte, wohnen heute auch Nicolae Ștefanescu und seine Frau. Hier gleichen die Häuser aus der Zeit der Jahrhundertwende oder aus den zwanziger und dreißiger Jahren mit ihren kunstvollen Eingängen und Verzierungen, mit ihren großzügigen Terassenbalkonen oder mit ihren kubistischen Formen jedes für sich einem kleinen Palast oder einem Kunstwerk. Die Bukarester und Bukaresterinnen investierten viel Zeit und Geld in ihre Wohnungen und Häuser.
In die Geschichten, die Nicolae Ștefanescu darüber erzählt, mischt sich, je länger er spricht, desto mehr Bitterkeit. Nach vierzig Jahren Kommunismus, während derer Tausende Immobilien verstaatlicht wurden, ist der Verfall überall sichtbar. Nach fast vierzig Jahren Arbeit als Maschinenbauingenieur bekommt Nicolae Ștefanescu heute eine Rente, die kaum zum Leben reicht. Auch seine Frau Magda berichtet halb stolz, halb traurig von ihrer Vergangenheit. Ihre Vorfahren kamen aus Österreich, aus der Slowakei, aus Ungarn; ihr Vater siedelte sich kurz vor der Jahrhundertwende als Schmiedemeister in Bukarest an. Magda Ștefanescu arbeitete zwanzig Jahre lang als Redakteurin und Reporterin, zuletzt bei der ungarischen Zeitschrift A Hét („Die Woche“). Heutzutage erscheint die Zeitung nur noch dann, wenn Geld da ist, und mit so vielen Seiten, wie eben bezahlt werden können.
Es gibt noch 7.000 Juden in der Stadt, ein paar tausend Ungarn, ein paar hundert Deutsche. Die meisten haben Bukarest spätestens nach dem Sturz des Diktators verlassen. Freunde und Verwandte haben die Ștefanescus kaum mehr hier. Auch Nicolae Ștefanescu hat bei der deutschen Botschaft sein Auswanderungsgesuch abgegeben. Sein ältester Bruder ist schon in Deutschland. Der Zweitälteste wartet auf die Papiere.
Die Spuren eines Bukarest, in dem halb Europa und halb Asien zusammengelebt haben, muß der Interessierte schon selbst entdecken. Aus Erzählungen der noch Verbliebenen, aus alten Zeitungen, aus Fußnoten und Nebensätzen in verstaubten Büchern. Obwohl heutzutage vielerlei Bücher über Bukarest erscheinen, sieht es nicht so aus, als ob die Geschichte dieses anderen, vielleicht eigentlichen Bukarest bald geschrieben werden würde. Zahllose Statuen in der Stadt ehren rumänische Persönlichkeiten, aber kein Denkmal erinnert an die Pogromopfer von 1941. Unter Bukarester Intellektuellen ist es Brauch, in den Redefluß immer ein paar Brocken Französisch zu streuen. Manche von ihnen schreiben heute enthusiastisch über „die Rumänen“ Tristan Tzara und Urmuz.
Unter der Amnesie entsteht eine neues Bukarest. Das der Roma, die nach dem Sturz des Diktators als erste den Straßenhandel in die Hand nahmen und dafür sorgten, daß es trotz leerer Geschäfte überhaupt etwas zu kaufen gab. Das der verschlafenen, gepäckbeladenen russischen, ukrainischen und moldauischen Geschäftstouristen, die am Nordbahnhof ankommen und deren Verdienst im Preisgefälle zwischen den Grenzen besteht. Es gibt längst wieder türkische, libanesische und chinesische Restaurants und Geschäfte. Nur der Westen macht sich im neuen Gewühl auf Bukarester Straßen, das an Fotografien aus den dreißiger Jahren erinnert, noch rar. Vorerst mit massenweise Coca-Cola, Marlboro-Reklame und Sicherheitszäunen vor seinen Botschaften. Dort lagern Menschenmengen wie hungrige Tiere.
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