Die Türkei sucht eine neue Führung

Nach dem Rücktritt der türkischen Ministerpräsidentin Tansu Çiller ist unklar, wer eine neue Regierung bilden kann / Fast alle Parteien fordern vorgezogene Neuwahlen im Frühjahr  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Ausgerechnet biedere Sozialdemokraten bescherten der machtbewußten türkischen Regierungschefin Tansu Çiller das vorläufige Ende. Weder die Hunderttausende Arbeiter der staatlichen Betriebe, die am Mittwoch für höhere Löhne und einen angemessenen Inflationsausgleich streikten und lautstark „Kein Frieden ohne Brot – Çiller tritt zurück!“ skandiert hatten, waren dazu in der Lage, noch der blutige Krieg, dem in Kurdistan tagtäglich Menschen zum Opfer fallen.

Der neugewählte Chef der „Republikanischen Volkspartei“ (CHP) Deniz Baykal war am Mittwoch zu neuen Gesprächen über die Fortführung der Regierungskoalition mit der Ministerpräsidentin Tansu Çiller zusammengetroffen, hatte ihr – wie er später erzählte, tief „in die Augen geschaut“ – und nach vier Stunden entschieden: „Die Koalition ist beendet.“

Denn geschwiegen habe die Ministerpräsidenten zu dem wichtigen Thema der Unterwanderung des Staatsapparates durch die faschistische MHP (Nationalistische Aktionspartei) und politische Islamisten. Selbst den berüchtigten Istanbuler Polizeipräsidenten Necdet Menzir, der sozialdemokratische Minister in aller Öffentlichkeit als „vaterlandslose Gesellen“ angegiftet hatte, wolle oder könne die Ministerpräsidentin nicht des Amtes entheben. Menzir hatte auf der Beerdigung eines getöteten Polizisten gegen die Politiker vom Leder gezogen, die da immer von angeblichen „außergerichtlichen Exekutionen der Polizei“ berichten. Und klar auf die sozialdemokratischen Minister gemünzt sprach Menzir von „Kommunisten“ und „Atheisten, die sich unter der Maske des Laizismus verstecken“.

Als sich Tansu Çiller nun weigerte, den Istanbuler Polizeichef seines Amtes zu entheben, war das endgültig Anlaß genug, um das Spitzengespräch abzubrechen. Nach dem Gespräch stellte sich Çiller rühmend hinter den Istanbuler Polizeichef: „Es kann keinen Neubeginn geben, der auf den Leichnamen solcher Beamten aufgebaut ist. Ich habe Herrn Baykal mitgeteilt, daß wir hinsichtlich der Bekämpfung des Terrorismus keine Konzessionen machen werden. Wir werden die Ehre von Persönlichkeiten verteidigen, die den Terrorismus bekämpfen.“

Laut türkischen Zeitungsberichten sprach Baykal davon, daß nicht Çiller, sondern eine „geheime, außerparlamentarische Koalition“ das Land regiere. Die Eiserne Lady sei ja noch nicht einmal in der Lage, einen städtischen Polizeichef seines Amtes zu entheben, selbst wenn der unsägliche Dinge über die Minister ihres Kabinettes verbreite. Baykal traut den Zukunftsversprechungen Çillers nicht. „Sie hat in ihrer liebenswürdigen Art voller Wärme schöne Dinge für die Zukunft versprochen. Doch die vergangenen vier Jahre konnte sie nicht erklären.“

In den vergangenen vier Regierungsjahren hatte der sozialdemokratische Koalitionspartner kaum Einfluß auf die Innenpolitik. Demokratisierungsversprechen wurden unter Verweis auf „höhere, nationale Interessen“ nicht eingehalten. Die Sozialdemokraten durften Ministerämter bekleiden – und abends im Fernsehen mitansehen, wie Polizisten sozialdemokratische Abgeordnete auf Kundgebungen zusammenknüppelten.

So war der Bruch der Koalition die vielleicht letzte Chance für die „Republikanische Volkspartei“, ihrem Untergang entgegenzuwirken. Bei den Kommunalwahlen im Frühjahr vergangenen Jahres war deutlich geworden, wie sehr die Wähler der Partei davonlaufen.

Nach dem Rücktritt der Ministerpräsidentin hat in der Hauptstadt Ankara die Suche nach einer neuen Regierung begonnen, die zumindest bis zu vorgezogenen Neuwahlen im Amt bleibt. Anfang nächster Woche wird Staatspräsident Süleyman Demirel mit den Parteiführern zusammenkommen. Es wird damit gerechnet, daß er im Laufe der nächsten Woche den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen wird.

Die stärkste Oppositionspartei, die „Mutterlandspartei“ unter Mesut Yilmaz, hat erklärt, daß sie bereit sei, eine Koalition mit Çillers „Partei des rechten Weges“ einzugehen, allerdings nur, wenn in jedem Falle die Neuwahlen vorgezogen werden. Dazu muß das Parlament ein Wahlgesetz verabschieden. Die sozialdemokratische CHP begrüßt vorgezogene Wahlen ebenso wie die islamistische „Wohlfahrtspartei“ unter Necmettin Erbakan, und so ist damit zu rechnen, daß die Neuwahlen tatsächlich spätestens im Frühjahr nächsten Jahres stattfinden.

Nur Tansu Çiller selbst sträubt sich gegen Neuwahlen. „Die Türkei braucht keine Wahlregierung, sondern eine Regierung, die die Probleme löst“ sagte sie, nachdem der Bruch der Koalition mit den Sozialdemokraten vollzogen war. Insbesondere die Aufnahme der Türkei in die Zollunion mit der Europäischen Union, die im Winter ansteht, will Çiller unter ihr persönliches Erfolgskonto verbuchen.

Ihr schwebt ein Minderheitenkabinett vor, das von der faschistischen „Nationalistischen Aktionspartei“ unter dem Ex-Oberst Alpaslan unterstützt wird. Doch angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament erscheint es zweifelhaft, ob einer solchen Regierung das Vertrauen ausgesprochen wird. Die „Partei des rechten Weges“ und die „Nationalistische Aktionspartei“ verfügen zusammen über keine absolute Mehrheit im Parlament.

Zwar stellt Çillers „Partei des Rechten Weges“ noch immer die stärkste Fraktion im Parlament. Ob Staatspräsident Demirel aber wirklich die gescheiterte Ministerpräsidentin selbst noch einmal mit der Regierungsbildung beauftragt, ist dennoch unklar. Demirel, der alte Mentor der türkischen Regierungschefin, könnte auch in Çillers innerparteilichen Konkurrenten Hüsamettin Cindoruk, dem jetzigen Parlamentspräsidenten, den rechten Mann sehen, der zur Bildung einer überparteilichen Regierung bis zu vorgezogenen Parlamentswahlen in der Lage ist.