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Tschüs, Gutenberg!

■ Nix zum Blättern - nur zum Klicken: Das CD-ROM-Magazin "Radar" wendet sich natürlich nicht an Leser, sondern an User!

Das „erste deutsche interaktive und multimediale Lifestyle- und Unterhaltungsmagazin auf CD- ROM-Basis“, wie es in der Pressemitteilung heißt, ist es zwar nicht, aber ein Quantensprung im Bereich Elektronisches Publizieren ist Radar auf jeden Fall. Was immer man denken mag, wenn man sich durch die erste Ausgabe der lange angekündigten CD-ROM- Zeitschrift geklickt hat – die deutsche Konkurrenz hat Radar in punkto multimedialer Aufbereitung hinter sich gelassen. Ob das eine gute Nachricht ist, ist eine andere Frage.

Radar erscheint mit einer Startauflage von 35.000 Exemplaren, die in Kiosken, Computerläden und „Szeneläden“ vertrieben werden sollen. Das CD-ROM-Magazin kostet 19,90 Mark und läuft auf Windows- und Macintosh-PCs. Im Januar 1996 soll als Online-Ergänzung der Internet-Dienst „Interradar“ ans Netz gehen, der aktuelle Informationen liefern wird. Radar soll vierteljährlich erscheinen und richtet sich an die ominöse Zielgruppe der „Generation X“. Die sei durch „die Werbung auf herkömmlichen Wegen oft nur schwer zu erreichen“, erklärt der Esslinger Verlag ID-Media, der es wissen muß: Er ist aus einer Werbeagentur hervorgegangen.

CD-ROMs werden als Computer-Speichermedium immer wichtiger. Ähnlich wie Computer-Disketten können die kleinen Silberscheiben, die nicht anders als Audio-CDs aussehen, digitale Daten speichern – bloß eben viel mehr als normale Disketten, nämlich bis zu 650 Megabyte. Darum kann man auf CD-ROMs außer Text auch Musik, Videos und anspruchsvolle Computerspiele unterbringen, die viele, viele Bits und Bytes brauchen – und genau das tun die deutschen und amerikanischen CD- RomZines: Launch und Trouble & Attitude aus den USA und World Clip und TV-Rom aus Deutschland liefern ihren LeserInnen (falls der Ausdruck hier noch zutrifft) Filmausschnitte, Animationen, Software-Proben und Videospiele zum Antesten auf dem Computerbildschirm.

Radar geht noch einen Schritt weiter: Anders als TV-Rom und World Clip kommt Radar ohne jede Printbeilage aus. Die Verpackung bietet fast keine gedruckten Informationen, noch nicht einmal Installationshinweise. Das neue CD-ROM-Magazin scheint für eine Zielgruppe gemacht zu sein, die sich aus der Gutenberg-Galaxis verabschiedet hat: Gedruckte Information ist rar, statt dessen manövriert sich der Nutzer durch „Screens“, die aussehen wie animierte Rave-Flyer: grelle Farben, seltsame Symbole, computergenerierte Muster, alles unterlegt von einem ununterbrochenen Techno- Soundteppich. Icons leuchten auf, wenn der Cursor sie berührt; auf Mouse-Klick erscheinen die redaktionellen Beiträge, die zum größten Teil aus Videos, Grafiken und Animationen bestehen. Radar ist ein Medium für User, nicht für Leser. Anders als bei anderen CD- ROM-Magazinen kann man bei Radar auch keine längeren Hintergrundartikel ausdrucken. „Intuitiv“ soll (und muß) sich der User durch den Inhalt klicken. Ihn erwartet eine krude Mischung aus „allem, was hip ist“ oder was man in Essingen dafür hält: Extrem- Sportarten, Cybersex, Mode, Wellness und Esoterik. Journalistische Maßstäbe scheinen den Radar- Machern weitgehend unbekannt zu sein. Werbung und Redaktion sind zum Teil kaum zu unterscheiden. So erfährt man nach einem kleinen Spiel, bei dem man Pickel abschießen kann, wo eine „Taschen-Farbsonne“ zu bestellen ist, die angeblich bei Akne hilft.

Richtige Werbung gibt es auch, und die ist im Gegensatz zur Beta- Version sogar als solche gekennzeichnet. Ein Uhrenhersteller liefert eine Art Geduldspiel, eine Computerfirma lädt zum Druckertest ein, ein Klamottenhersteller bietet eine Anziehpuppe, die man mit seinen Produkten einkleiden kann – alles schön interaktiv, so wie es in Werberpostillen und auf einschlägigen Kongressen in den letzten Monaten immer wieder gefordert wurde. Der „Lerneffekt“ soll so wesentlich höher sein als bei Anzeigen und TV-Spots, die nur passiv konsumiert werden. Noch erfolgreicher dürften für Werber aber die gesponserten Angebote in Radar sein. So bietet zum Beispiel eine Zigarettenfirma einen „Internet-Führer“ an und annonciert auch gleich ihr eigenes Internet- Angebot. „Interfusion“ heißt das im Werberdeutsch. Statt die Konsumenten mit Werbebotschaften zu bombardieren, sollen werbetreibende Unternehmen Unterhaltungsangebote und Services anbieten, die sie zum Teil des öffentlichen Diskurses machen.

Diese Theorie stammt von dem dubiosen Marketing-„Guru“ Gerd Gerken. Der berät auch die Zigarettenfirma, die in Radar wirbt, und ganz zufällig ist ihm auch ein redaktioneller Beitrag gewidmet, in dem er in O-Ton Zukunftsprognosen gibt. Eine davon: „Multimedia leitet den Tod der Information ein.“ Tilman Baumgärtel

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