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"Bis heute hat niemand den Überblick"

■ "Meine Wahrheit ist gut, Ihre Wahrheit ist schlecht": Der Kunsthistoriker Grigori Koslow zur Beutekunst-Debatte

taz: Nach Ihrer Veröffentlichung kann in Moskau niemand mehr behaupten, die Beutekunst sei lediglich aus Sorge um ihren Erhaltungszustand in die damalige Sowjetunion gebracht worden. Wer kannte Stalins gigantomanische Museumspläne?

Grigori Koslow: Kaum jemand. Seit Kriegsende wurden diese Planungen streng geheimgehalten. Unmittelbar nach dem Krieg galten die erbeuteten Kunstwerke als Trophäen, mit denen erlittenes Leid kompensiert wurde. Und alle, die daran beteiligt waren, Kunstwerke aus Deutschland zusammenzutragen, wußten auch, daß sie ins neue Moskauer Museum sollten. Aus finanziellen und innenpolitischen Gründen stoppte die Regierung Stalin und seine Entourage die Projekte „Palast der Sowjetunion“ und „Weltkunstmuseum“ Ende der Vierziger. Danach geriet es, wie so viele Beutekunstdepots in allen möglichen sowjetischen Museen, in Vergessenheit. Und wer noch davon wußte, wollte nicht mehr danach fragen. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert: Obwohl Sie einen Teil der Beutekunst-Bilder zur Zeit in Moskau und Sankt Petersburg sehen können, und die Werke auch im Katalog abgebildet sind, gab es sie laut Parteiakten bis zu unserer ersten Veröffentlichung gar nicht. Erst danach war man Schritt für Schritt bereit, die Wahrheit zu akzeptieren.

Existieren noch Dokumente aus jener Zeit?

Wir haben eine Reihe veröffentlicht. Es gibt darunter allerdings keinen Befehl, die Kunstobjekte zu verbergen.

Hatte irgend jemand den Überblick, wie viele Kunstwerke überhaupt in welche Museen gebracht worden sind?

Wir versuchen diesen Überblick in unserem Buch zu geben, aber es existiert bis heute kein wissenschaftlich erarbeiteter Katalog. Ein Beispiel: Als die sowjetische Regierung 1955 Kunstgüter an die DDR zurückgab, wurden mehr als 700 Gemälde aus Dresden in Kiew einfach vergessen, weil niemand in Moskau von ihrer Existenz wußte. Einige Kisten wurden erst zehn Jahre nach Kriegsende geöffnet.

Wie reagierte Ihre damalige Chefin und Museumsdirektorin Irina Antonowa, die ja wider besseres Wissen hartnäckig die Existenz von Sonderdepots leugnete, auf Ihre Enthüllungen?

Bis der amerikanische Korrespondent der Iswestija auf das Thema aufmerksam wurde, nahm niemand in Moskau unsere Artikel wahr. Erst dann rief mich Irina Antonowa zu sich. Das Gespräch war ein Alptraum. Sie begann sofort, mich zu beschuldigen: „Es ist nicht möglich: Sie sind Mitarbeiter eines sowjetischen Museums. Wie können Sie mit ausländischen Medien zusammenarbeiten? Sie sind ein Betrüger“ – und so weiter. Sie warf alle anderen Mitarbeiter aus ihrem Büro hinaus und schrie mich an: „Was wollen Sie?“ Und ich antwortete: „Ich will die Wahrheit wissen. In unserem Beruf verschwendet man manchmal zehn Jahre, nur um hinter eine einzige Bildidee oder eine Komposition zu kommen. Mir geht es um das Schicksal von mehr als zweieinhalb Millionen Kunstwerken. Ich will die Wahrheit wissen.“ Sie antwortete: „Es gibt zwei Arten von Wahrheit: gute und schlechte. Meine Wahrheit ist eine gute, Ihre ist eine schlechte Wahrheit.“

Hat man versucht, Sie von Ihrem Vorhaben abzubringen?

Man hat sich nicht getraut, uns direkt anzugehen. Schließlich gab es Dutzende von Korrespondenten, die daran interessiert waren, mit uns ins Gespräch zu kommen. Die Öffentlichkeit hat uns geschützt. Frau Antonowa haßte mich – das tut sie bis heute –, also änderte sie ihre Taktik und machte meinen Freunden im Museum Schwierigkeiten. Als ich mich deshalb entschloß, zu kündigen, setzte sie eine museumsinterne Kommission ein, die meine Aktivitäten im Museum überprüfen und mir Verbrechen nachweisen sollte. Aber ich hatte mir nichts zuschulden kommen lassen.

Frau Antonowa ist trotz ihrer inzwischen nachgewiesenen Lügen nach wie vor Direktorin des Puschkin-Museums. Haben Sie eine Erklärung?

Sie ist noch immer eine sehr mächtige Figur und Mitglied der russischen Delegation bei den Verhandlungen über die Rückgabe der Beutekunst. Und nicht zuletzt arbeiten auch die Deutschen gerade wieder intensiv mit ihr zusammen: Sie ist auf russischer Seite verantwortlich für die große Ausstellung „Berlin–Moskau“. Ich denke, Frau Antonowa will in die Geschichte als Retterin der russischen Museen eingehen. Das ist ihr Hauptziel: einen Platz in der Geschichte zu bekommen. Ich respektiere sie als Kollegin, sie hat großartige Ausstellungen gemacht. Aber sie hat ihre politische Einstellung nie geändert.

Jetzt will die Duma ein Gesetz verabschieden, das die Rückgabe von Beutekunst für alle Zeiten ausschließt. Ist Frau Antonowa auch für den Rückschritt bei den deutsch-russischen Verhandlungen verantwortlich?

Natürlich. In der ersten Zeit nach der Jelzin-Revolution war sie in einer schrecklichen Situation: 1991 und 1992 verschwanden innerhalb kürzester Zeit all ihre Freunde aus dem Zentralkomitee und aus der Partei; sie wurden entlassen oder traten zurück. Innerhalb einer Nacht enthielt ihr Telefonbuch nur noch wertlose Nummern, das muß schrecklich gewesen sein. Aber als die nationalistischen Kräfte wieder an Einfluß und Gewicht gewannen, bekam auch Frau Antonowa ihre Position zurück – und die Möglichkeit, Entscheidungen zu beeinflussen. Daß zum Beispiel ein Teil der Gothaer Bibliothek im vergangenen Jahr doch nicht zurückgegeben wurde, ist auf ihre Unterstützung der nationalistischen Kräfte und auf ihre Artikel zurückzuführen. Die Bücher waren schon fertig verpackt ... Wenn die Duma dieses zunächst auf unbestimmte Zeit verschobene Gesetz verabschiedet, wird die ganze Sache für alle Zeiten beendet sein, dann gibt es keine Rückgabe. Aber ich weiß, daß es nach diesen letzten Verhandlungen zwischen Kohl und Jelzin noch eine Chance gibt. Ich kenne keine Details und weiß nicht, was morgen in Moskau passieren wird, aber ich weiß, daß es noch Hoffnung gibt.

Sie nennen in Ihrem Buch die Zahl von mehr als zweieinhalb Millionen Kunstgegenständen, die nach dem Krieg in die Länder der ehemaligen Sowjetunion gebracht worden waren und von denen sich noch immer rund eine Million dort befinden. Hat irgend jemand einen Überblick darüber? Ist bekannt, was nach den zur Zeit in Moskau und St. Petersburg gezeigten Ausstellungen mit den Werken aus den Sammlungen Krebs, Köhler, Gerstenberg und Siemens passieren wird – Depot oder Dauerausstellung?

Auf all diese Fragen gibt es keine Antwort. Die Beutekunstwerke sind nach wie vor Geiseln des Kalten Krieges. Es wäre möglich, alles zu katalogisieren, aber das ist eine Frage von Zeit und Geld. Ein Beispiel: Einige Werke aus der Sammlung der Kunsthalle Bremen, die russische Soldaten gestohlen hatten, sind inzwischen in einer Ausstellung gezeigt worden. Im Puschkin-Museum gibt es aber Dutzende von weiteren Bremer Zeichnungen. Auch Schliemanns „Gold von Troja“ ist inzwischen bekannt und soll demnächst gezeigt werden.

Aber es gibt auch noch die für Experten vielleicht viel interessanteren Bronzestücke, die in der Eremitage aufbewahrt werden.

Dann hängen in verschiedenen russischen Etagenwohnungen auch noch echte Dürer-Zeichnungen an der Wand?

Natürlich, ich bin mir dessen absolut sicher. Menzel-Zeichnungen aus der Dresdener Galerie, Zeichnungen aus Bremen. Eine Menge.

Es gab Gerüchte über das van- Gogh-Gemälde „Das weiße Haus in Auvers“, das im Depot der Petersburger Eremitage gegen eine Kopie ausgetauscht und einem Deutschen namens Nowak zum Kauf angeboten worden sein soll. Wissen Sie mehr darüber?

Das ist eine merkwürdige Geschichte, die noch aufgeklärt werden müßte. Fest steht nur, daß in der zur Zeit gezeigten Ausstellung das Original hängt.

Wird Ihr Buch auch in Rußland erscheinen?

Es gibt einen Verlag, der daran interessiert ist. Aber es gibt noch keinen Vertrag. Vielleicht in einigen Monaten.

Interview: Stefan Koldehoff

Konstantin Akinscha/Grigori Koslow: „Beutekunst – Auf Schatzsuche in russischen Geheimdepots“. 340 Seiten, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 32 DM

Konstantin Akinscha/Grigori Koslow/Clemens Touissant: „Operation Beutekunst“. 96 Seiten mit 12 S/W-Abb. und 24 Dokumenten. Verlag des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, 35 DM

Albert Kostenewitsch: „Aus der Eremitage – Verschollene Meisterwerke deutscher Privatsammlungen“. 292 Seiten mit 74 Farb- und zahlreichen S/W-Abb., Kindler Verlag München, 88 DM

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