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Wie ein Krieg entsteht

„Vor dem Regen“ von Milcho Manchevski zeigt die Verstrickungen im Konflikt auf dem Balkan.  ■ Von Christiane Peitz

Berge, majestätisch, rauh, oben das Wolkengebirge. Vielleicht zirpen die Grillen, oder ein Wind fährt trügerisch sanft durch die Blätter. Die Welt hält den Atem an, und das Herz setzt einen Schlag lang aus. Du weißt, gleich geschieht etwas Furchtbares, und du kannst dich nicht wappnen dagegen, weil du keine Vorstellung davon hast. Es ist ein unscheinbarer, pathetischer Augenblick.

Dann kommt der alte Mönch und bittet den jungen, ins Kloster zu gehen, wegen des Regens. Der junge, Kiril (Gregoire Colin), mit einem traumwandlerisch schönen, unschuldigen Gesicht nickt ohne ein Wort. Er hat ein Gelübde abgelegt, niemals zu sprechen. Er ist in ein mazedonisches Kloster gegangen, ein uraltes Kloster in den Bergen und hat sich von der Welt entfernt.

So beginnt „Vor dem Regen“, mit einer belanglosen Szene aus einer fernen, vergangenen Welt. Aber der Schein trügt. Die Geschichte spielt nicht in mythischer Vorzeit, sie spielt heute, in den neunziger Jahren, in einem Land, das es nicht mehr gibt und einmal Jugoslawien hieß. Die Welt, von der Kiril sich verabschiedet hat, wird ihn heimsuchen, und er wird nicht gewappnet sein gegen sie. „Vor dem Regen“ ist ein Film über Heimsuchungen. Ein Anschlag der Wirklichkeit auf den, der sie nicht wahrhaben will.

Seltsam genug: Ein Spielfilm, also eine Fiktion, räumt auf mit der Illusion. Jedes Bild besagt: Sieh zweimal hin, nichts ist, was es scheint. Kinder spielen im Abendlicht, aber sie spielen Krieg mit Schildkröten, die sie ins Feuer jagen, bis die Panzer bersten. Mazedonische Ninja Turtles. Milcho Manchevski hat drei Geschichten miteinander verwoben. Drei Heimsuchungen, von Kiril, dem Schweigemönch, Anne, der Londoner Bildredakteurin, und Aleksander, dem mazedonischen Kriegsfotografen. Die dritte Geschichte endet mit dem Anfang der ersten. Sie sind so kompliziert ineinander verstrickt, wie sich ihre Protagonisten verstricken.

Die erste Geschichte heißt „Worte“: Das albanische Mädchen Zamira flüchtet vor einem mazedonischen Suchtrupp und bitte Kiril, sie zu verstecken. Angeblich hat sie den Bruder der Häscher ermordet. Kiril versteht sie nicht, er kann kein Albanisch. Aber er wittert romantisches Heldentum, hilft ihr, bricht sein Gelübde und muß das Kloster verlassen. Die bewaffnete Bande platzt in den Gottesdienst, plötzlich Maschinenpistolen mitten im Klosterfrieden. Am Ende wird das Mädchen getötet, Kirils Heldentat war umsonst. Viel später stellt sich heraus, daß Zamira von ihrem eigenen Bruder erschossen wurde.

Die zweite Geschichte, „Gesichter“: Anne (Katrin Cartlidge, die Drogensüchtige aus Mike Leighs „Naked“) betrachtet in London Fotos vom Balkankrieg, von Bosnien und anderswo. Auch das Foto der toten Zamira ist darunter. Ein kühler, taxierender Blick. Welche Leiche macht sich am besten. Anne ist Moralistin. Ihren Freund Aleksander will sie davon überzeugen, daß er als Reporter Stellung beziehen muß im Bosnienkonflikt, Stellung gegen den Krieg. Dabei kann sie sich selbst nicht entscheiden, zwischen Aleksander und ihrem Ehemann Nick. Annes Mutter sagt: „Kein Problem ist so groß, daß man nicht davor davonlaufen könnte.“ Sie irrt. Aleksander hat genug vom Krieg und bittet die schwangere Anne, mit ihm in sein mazedonisches Heimatdorf zu reisen. Sie trifft sich im Restaurant mit ihrem Mann, zögert, weil sie ihn nicht verletzen will, zögert, als er gehen will. Als ein fanatischer Extremist – aus welcher Kriegsregion auch immer – ausgerechnet in diesem Moment, in diesem Londoner Restaurant ein Blutbad anrichtet, erwischt es auch Nick: ein sinnloses, zufälliges Opfer. Annes Zögern ließ ihn in die Schußlinie geraten, ihre Unentschlossenheit bedingt seinen Tod. Anne sieht ihn an und sagt: „Your face.“ Der Schein trügt. Für das Wort, das sie benutzt, gibt es kein Bild mehr. Nicks Gesicht ist zerschossen.

Die dritte Geschichte, „Bilder“: Aleksander kehrt allein nach Mazedonien zurück. Irgendwann beichtet er: „My camera killed a man.“ Weil er in Bosnien keine aufregenden Bilder bekam, hat ein Soldat extra für die Kamera vor seinen Augen einen Gefangenen erschossen. Der Reporter als Komplize, ein Kriegstreiber. Die nicht selten eitle Debatte über die Rolle der Medien im Balkankrieg konzentriert Manchevski in diesen einen Satz. Es gibt keine unschuldigen Bilder. Wer sich ein Bild macht, bezieht Position. Andernfalls gibt es keins.

Aleksander will vor der Verantwortung fliehen. Im Heimatdorf besucht er seine Jugendliebe, Hana, die Albanerin. Aber die Familie will ihn nicht empfangen, denn das Dorf durchzieht eine unsichtbare Front. Nachbarn und Verwandte sind Feinde geworden, Albanier und Mazedonier. Als Hanas Tochter Zamira (das Mädchen aus dem ersten Teil) auch noch des Mordes an Aleksanders Vetter verdächtigt wird, kann Aleksander sich dem Konflikt nicht mehr entziehen. In Aleksanders Heimat spielt sich ab, was die westlichen Medien einen ethnischen Konflikt nennen: Familienkrach. Aleksander mischt sich ein, versucht, Hanas Tochter zu schützen, tritt in wahnwitziger pazifistischer Anwandlung vor die Gewehrmündung und wird so von der eigenen Familie getötet.

Anne, so endet Manchevskis Dreisatz, trifft pünktlich zu seiner Beerdigung ein. Weil der Film aber dort aufhört, wo er beginnt, weiß der Zuschauer: Auch Aleskanders Tod ist sinnlos, Zamira wird sterben. Manchevski raubt uns noch die leiseste Hoffnung. Die weißen Fahrzeuge der Unprofor mitten in der mazedonischen Landschaft bleiben Fremdkörper, fehl am Platz, lächerlich. Wenn alles vorbei ist, sammeln sie die Toten ein. Der Krieg sei ein Virus, heißt es einmal, was gefährlich fatalistisch klingt, als sei die Gewalt eine Naturkatastrophe. Aber Manchevski zeigt immerhin, wie Fatalismus entsteht, wie der Virus sich fortpflanzt und daß sein Ursprung keine Rolle mehr spielt, wenn der Funke erst einmal übergesprungen ist. Das heißt, man braucht nicht Historiker zu werden, um den Balkankrieg zu verstehen. Der Schein trügt. Freunde und Verwandte schlagen und umarmen sich mit ein und derselben Geste.

„Der Kreis ist nicht rund“, bedeutet ein Graffito an einer Londoner Hauswand, eine Anspielung auf das Zeitparadoxon von Manchevskis Ellipse: Anne sieht das Foto der toten Zamira, lange bevor Zamira ins Kloster flüchtet. Ein Schaf wird geboren, der Arzt wäscht sich die blutigen Hände und sagt: Hier wird nicht geschossen. Die beiden brutalsten Bilder zeigen eine von Gewehrsalven zerfetzte Katze und das Inferno der Schildkröten; das meiste Blut fließt bei der Schafsgeburt. Gewöhnlich fließt Blut im Kino, wenn ein Leben endet. Manchevski ist ein Meister der Verschiebung. Als die Katze erschossen wird, muß Kiril sich übergeben. Auch Anne übergibt sich, als sie die Fotos betrachtet, trotz ihres Profi-Blicks. Als Aleksander von Hana erfährt, daß Zamira ihre Tochter ist, würgt es ihn ebenfalls. Wer zuschaut, ist involviert. Manchevski sucht nicht nach Erklärungen, sondern nimmt den Befund beim Wort: Seinen Protagonisten dreht es den Magen um.

„Vor dem Regen“ ist ein Film über Körper, und wie die Gewalt sie zurichtet. Der in New York lebende mazedonische Regisseur hat bisher nur durch Werbespots und Dokumentarfilme von sich reden gemacht; MTV verlieh ihm 1992 einen Preis für das beste Rap- Video. Nach Jahren erstmals nach Skopje zurückgekehrt, drehte Manchevski seinen Jugoslawienfilm in der einzigen Region des ehemaligen Balkanstaats, in der nie ein Schuß fiel, in Mazedonien eben. Aleksander wird von Rade Serbedzija gespielt, einem in Kroatien geborenen Serben, der Belgrad wegen Morddrohungen verlassen mußte, weil er sich weigerte, seine Nachbarn zu Feinden zu erkläre. Und für die Rolle des albanischen Mädchens Zamira lebte die Mazedonierin Labina Mitevska eine Zeitlang bei Kosovo-Albanern.

So spielt der bisher beste Film über Sarajevo in Mazedonien, und sein Regisseur ist kein renommierter Autorenfilmer, sondern einer, der vom Kommerz kommt, ein Debütant. Das paßt nicht ins Bild vom europäischen Kino. „Vor dem Regen“ gewann 1994 in Venedig den Goldenen Löwen.

Vor dem Regen. Regie: Milcho Manchevski, mit Gregoire Colin, Labina Mitevska, Rade Serbedzija, u.a., GB / F / Mazedonien 1994, 115 Minuten.

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