: Keine Stimme für den Ex-Feind
In Polen ist die Polarisierung „Antikommunisten gegen Kommunisten“ noch nicht überwunden. Dies zeigt der Präsidentenwahlkampf ■ Aus Warschau Ruth Henning
Wählen? Klar gehe ich wählen. Wen? Keine Ahnung. So ein Passant in Warschau. Wie jeden Sonntag ist auch dieser ein „Aktionstag“. Eine Frau, die der von ihr favorisierten Kandidatin verblüffend ähnlich sieht, sitzt auf dem Bürgersteig an einem kleinen Tisch und sammelt Unterschriften für Hanna Gronkiewicz-Waltz, die Nationalbankpräsidentin. „Der Sonntag für Frau Hanna“ lautet die Parole. Deadline 28. September. Bis heute also haben die Bewerber Zeit, sich für die Präsidentenwahlen am 5. November registrieren lassen – 100.000 Unterschriften gehören dazu. 30 Anwärter für den Präsidentenposten soll es geben, darunter auch ein Kabarettist. Von Wahlkampfstimmung keine Spur. Nur die Zeitungen sind voll davon, und die Umfrageinstitute haben Hochkonjunktur.
Walesa ist der erste
Erst am 6. September wurde der Wahltermin bekanntgegeben. Drei Tage später ließ sich zur allgemeinen Verblüffung Präsident Lech Walesa als erster registrieren. Nun fragt man sich, woher er die 100.000 Unterschriften hat. Ob sie wirklich alle in der Armee gesammelt wurden? Im Juli hatte ein Abgeordneter behauptet, die Soldaten der Weichsel-Einheit wären bei der Auszahlung ihres Soldes unter Druck gesetzt worden, ihre Unterschrift zur Unterstützung der Kandidatur Walesas zu leisten. Nach einer Untersuchung bestätigten sich die Vorwürfe.
Bei der Vorbereitung seiner Kandidatur hatte Walesa vor allem auf die Unterstützung von katholischer Kirche, Solidarność und der Christlich-Nationalen Vereinigung (ZChN) gesetzt. Doch trotz der Entlassung seines engsten und meistgehaßten Mitarbeiters Mieczyslaw Wachowski gelang ihm dies nicht. Zwar ruft das katholische Episkopat dazu auf, keine Kandidaten zu wählen, „die in der totalitären Ära höchste Regierungs- und Parteiämter ausgeübt haben“, unterstützt andererseits aber keinen Kandidaten direkt. Solidarność drohte damit, die Wahlen zu boykottieren, wenn die Rechte sich nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einige.
So tritt Walesa ohne organisierte politische Basis an. Trotzdem unterstützt ihn natürlich ein Teil des Klerus, ein Teil von Solidarność und ein Teil von ZChN. Manche halten dies für seine „neue Stärke“ – überparteilich und ungebunden zu sein für einen neuen Anfang. Walesa hat das höchste Negativpotential in allen Umfragen – mehr als 50 Prozent der Befragten erklären, daß sie ihn auf gar keinen Fall wählen werden. Andererseits konkurriert er nach der letzten Umfrage bereits mit Hanna Gronkiewicz-Waltz um den zweiten Platz. Man starrt auf ihn wie das Kaninchen auf die Schlange.
Allgemein wird seine fünfjährige Präsidentschaft negativ beurteilt. In der Kanzlei des Präsidenten habe es keinen politisch arbeitenden Stab gegeben, sondern Höflinge, schreibt die Wochenzeitung Polityka. Die Position am Hof aber gewinne man weder durch formale Titel noch durch Kompetenz, sondern durch direkten Zugang zum Ohr des Gewaltigen.
Walesa verspricht für die Zukunft eine professionelle Arbeit der Präsidentenkanzlei, er müsse zu Ende führen, was er angefangen habe: die Reform und den Kampf gegen die Kommunisten. Während seiner Amtszeit mischte er sich ständig in die Regierungspolitik ein, legte mehrmals ein Veto gegen Parlamentsbeschlüsse ein. Wenn dieses mit Zweidrittelmehrheit vom Sejm überstimmt wurde, ließ er die Gesetze vom Verfassungstribunal überprüfen. Mit mehr oder weniger Erfolg versuchte er, sich den Generalstab der Armee direkt zu unterstellen, kämpfte um die Ausdehnung seiner präsidialen Kompetenzen, drohte dem „postkommunistischen Sejm“ mit Auflösung. Auch in der jetzigen Wahlkampagne kündigte er die Auflösung des Parlaments „mit legalen Mitteln“ an.
Favorit Kwaśniewski
Mit konstant um die 20 Prozent der Stimmen steht der Vorsitzende der polnischen Sozialdemokratie, Aleksander Kwaśniewski, an der Spitze der Präsidentenkandidaten. Er hat ein festes Wählerpotential, das ihm den Sieg in der ersten Runde nahezu garantiert, sich in der zweiten aber möglicherweise nicht erweitern läßt. Kwaśniewski gilt als modern und flexibel, er führt seine Kampagne im „amerikanischen Stil“, zeigt sich als Mann von Welt. Er setzt sich für marktwirtschaftliche Reformen, aber auch für eine gerechtere Verteilung der Reformkosten ein; befürwortet die Westorientierung Polens, also Nato- und EU-Beitritt.
Neben einigen anderen steht vor allem seine Person für die sozialdemokratische Orientierung der Partei. Seine Gegner werfen ihm vor, daß er der wachsenden Vetternwirtschaft keinen Einhalt gebiete. So stimmte er nicht für die Aufhebung der Immunität des Chefs der zentralen Zollbehörde, Sekula, der der Korruption verdächtigt wird, mit der Begründung, es handle sich um seinen Freund.
Einen Angriff auf Kwaśniewski startete das polnische Episkopat bei seiner letzten Plenarkonferenz. Eine große Gefahr für Polen sei es, „wenn ein Vertreter dieser Strömung (der linken Parlamentsmehrheit) das höchste Amt der Republik Polen erlangen würde“. Und: „Es ist nicht nur unsere Pflicht, an den Wahlen teilzunehmen, sondern auch, unsere Stimme einer solchen Person zu geben, die eine hohe Moral verkörpert, die die grundlegenden Menschenrechte – und damit auch das Recht auf Leben von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod – verteidigt.“ Das Episkopat leitet seine Pflicht, sich in dieser Weise zu äußern, übrigens aus dem 4. Gebot: „Du sollst Vater und Mutter ehren“, ab. Die Mutter ist Polen.
Eine Frau als Präsidentin?
Den Umfragen und der Stimmung im Lande nach ist Hanna Gronkiewicz-Waltz, Nationalbankpräsidentin, der neue Star der polnischen Politszene und Walesas Hauptkonkurrentin auf der Rechten. Obwohl der Präsident versuchte, dies zu verhindern, machte die Christlich-Nationale Vereinigung sie zu ihrer Kandidatin. „Frau Hanna“ genießt mehr oder weniger offensichtlich die Unterstützung der Kirche, von katholischen Organisationen wie des Vereins der katholischen Familien sowie mehreren kleinen rechten Parteien. Sie ist Mitglied der „Bewegung zur Erneuerung im Heiligen Geist“, die als eine Sekte gilt.
Bis zu ihrer Ernennung als Präsidentin der Nationalbank war Hanna Gronkiewicz-Waltz politisch unbekannt. Sie ist 42 Jahre alt, verheiratet, hat eine Tochter, und man sagt, sie repräsentiere die durchschnittliche Polin, und eben darin liege ihre Chance. Sie strahlt Mütterlichkeit, Selbstgewißheit und Ruhe aus. Sie ist Expertin für Bankrecht, parteilos, Solidarność- Gründungsmitglied an der Rechtsfakultät der Warschauer Universität. Nach eigenen Aussagen ist sie christlich-patriotisch orientiert. Daher tritt sie für eine staatliche „Pro-Familien-Politik“ sowie für die Einfügung eines Passus in die Verfassungspräambel ein, der sich auf Gott beruft. Und natürlich wendet sie sich gegen eine Lockerung der Abtreibungsregelung.
Als politische Vorbilder nennt die Patriotin Charles de Gaulle und Konrad Adenauer. Für Polen am günstigsten erachtet sie ein der französischen Verfassung entsprechendes Präsidialsystem. Wie Walesa möchte sie im Falle ihrer Wahl das „postkommunistische Parlament“ auflösen.
„Frau Hannas“ plötzlicher Erfolg wird von nicht wenigen polnischen Kommentatoren als „Tymiński-Effekt“ gedeutet, ein Großteil der polnischen Bevölkerung sei fasziniert vom Außenseiter im politischen Geschäft, hier zeige sich der Überdruß gegenüber den sich ständig streitenden Politikern. Auch der rechte Populist Stanislaw Tymiński hat sich im übrigen wieder angekündigt; für jede Unterschrift verspricht er einen Dollar, jedoch erst dann, wenn tatsächlich 100.000 Unterschriften vorliegen.
Kaum Chancen für Kuroń
Die gegenwärtige politische Szene in Polen, jedenfalls soweit es den Wahlkampf betrifft, ist gekennzeichnet durch den Kampf zweier Lager: Antikommunisten gegen Postkommunisten, Patrioten gegen Verräter, Solidarność-Lager gegen Volksrepublik. Eine Polarisierung, die eigentlich überholt ist, die gesellschaftliche Entwicklung nicht mehr zum Ausdruck bringt und vor allem die wirklichen Fragen und Probleme nicht behandelt. Dariusz Fikus, der Chefredakteur der Zeitung Rzeczpospolita, kritisiert dies und appelliert an die Kandidaten, sich den jetzigen gesellschaftlichen Problemen zu stellen und darüber zu diskutieren, wie Polen morgen und in einigen Jahren aussehen solle.
Angesichts der Tatsache, daß der Präsident in direkter Wahl gewählt wird, wohl eher ein frommer Wunsch. Vielleicht ist die Direktwahl des Staatspräsidenten auch keine sehr gute Idee in einem Land, dessen Menschen Demokratie und Marktwirtschaft praktisch erst seit wenigen Jahren kennen und dessen öffentliche Institutionen wie zum Beispiel das Fernsehen noch nicht sehr viele Erfahrungen gesammelt haben bei der Verwirklichung einer unabhängigen Berichterstattung.
Jacek Kuroń, der antritt als jemand, der eine solche Polarisierung vermeiden will, der seinen Mitkandidaten eine inhaltliche Diskussion anbietet und dessen Stab eine 70seitige Analyse über die Situation des Landes vorlegte, entspricht vielleicht schon eher den Wünschen des Chefredakteurs – aber um seine Wahlkampagne steht es nicht gut. Seine eigene Partei, die „Union der Freiheit“, ist gespalten. Zwar wurde Kuroń von ihr zum Kandidaten gewählt, er konnte sich allerdings nur mit wenigen Stimmen gegenüber seinem Konkurrenten Onyszkiewicz durchsetzen, und so unterstützt nicht die gesamte Union Kurońs Wahlkampf. Ein Teil initiierte sogar eine Unterschriftensammlung gegen den „Postkommunisten“ Kwaśniewski und begab sich damit in Widerspruch zur Kampagne Kurońs, die eine solche Polarisierung ja eben zu vermeiden suchte.
Auch gelang es dem einstigen Sozialminister nicht, seine Kandidatur als überparteilich anzulegen. Bei den Sozialdemokraten gab es keine Bereitschaft, zu seinen Gunsten auf eine eigene Kandidatur zu verzichten. Nur der Vorsitzende des „Bündnisses der demokratischen Linken“ schlug das vor, erzielte aber keine Resonanz, nun unterstützt er Kwaśniewski.
Dem langen Kampf Kurońs innerhalb seiner Partei um die Akzeptanz seiner Kandidatur fiel der Aufbau überparteilicher Komitees und Verhandlungen mit anderen politischen Kräften zum Opfer. Hinzu kam ein nicht ungefährlicher Fahrradunfall, dem eine Tratschkampagne über seinen Gesundheitszustand folgte. Den schwersten Schlag versetzten dem Ex-Solidarność-Aktivisten jedoch seine ehemaligen gewerkschaftlichen Mitstreiter der „Union der Arbeit“. Bei ihrem Parteikongreß nominierten sie den Ombudsmann Tadeusz Zieliński als Präsidentschaftskandidaten, beide kämpfen nun um das gleiche Wählerpotential. Die Abstimmung war knapp und trennte die Partei ziemlich haarscharf entlang der Linie der ehemaligen Mitgliedschaft in der Solidarność bzw. der „Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei“. Das Ergebnis dieser politischen Entscheidung hieß in der Sprache der Umfragen etwa 10 Prozent für Kuroń und 10 Prozent für Zieliński, aber mit fallender Tendenz. Sowohl die „Union der Freiheit“ als auch die „Union der Arbeit“ nähern sich einer Spaltung. Zwei Parteien, die sich einen Kandidaten wählen, den sie dann nicht unterstützen. Piotr Marciniak, Sejmabgeordneter der „Union der Arbeit“: „Ich glaube, das war unser schwerster Fehler.“ Karol Modzelewski, Ehrenvorsitzender derselben Partei, trat nach der Entscheidung gegen Kuroń aus dieser aus und unterstützt aktiv dessen Wahlkampf. Ein Teil der Mitglieder hält sich zurück, ein Teil unterstützt Kuroń und ein Teil Zieliński, der auf diese Weise ausgesprochene Schwierigkeiten haben soll, die verlangten 100.000 Unterschriften zusammenzubringen.
Jacek Kuroń, der aus Anlaß des Wahlkampfs seine berühmten Jeans gegen zugegebenermaßen gutsitzende Anzüge ausgetauscht hat: „Ich bin sehr zufrieden mit den Ergebnissen meiner Wahlversammlungen, fahre unermüdlich durchs Land, habe keinerlei Schwierigkeiten, die Unterschriften zusammenzubringen, aber leider gewinnt man damit noch keinen Wahlkampf.“ Es sieht so aus, als ob Kuroń mit seinen Jeans auch seine ganze Ausstrahlungskraft verloren hätte. Er wirkt „gut angezogen“, zurückhaltend, dialogbereit – aber langweilig. Das Fernsehen steht ihm nicht gerade offen.
Auch herrscht eine eigenartige Lähmung bei den Anhängern Kurońs. Filmemacher Andrzej Wajda fragt ihn auf dem Treffen mit Intellektuellen und Künstlern in den Räumen der Polnischen Akademie der Wissenschaften, warum es mit der Kampagne nicht besser laufe, und gibt sich selbst die Antwort: „Die Polen wollen sich nicht von einem Arzt behandeln lassen, sondern von einem Medizinmann.“ Jacek Kuroń, jahrelang der beliebteste Politiker in Polen, legendärer Mitbegründer des Komitees für Arbeiterrechte (KOR) und der freien Gewerkschaften sowie langjähriger Insasse polnischer Gefängnisse, wird als Präsidentschaftskandidat offenbar nicht akzeptiert. In Polen hat man eine andere Vorstellung davon, wer polnischer Präsident sein darf.
Patrioten gegen Postkommunisten
In der ersten Runde der Wahl, wird kein Kandidat die absolute Mehrheit erreichen. In der zweiten Runde wird dann die Wahl schwerfallen, weil sie einer Polarisierung entspricht, die nicht mehr die tatsächlichen Verhältnisse ausdrückt. Auch wer nicht der Meinung ist, daß die heutigen Postkommunisten/Sozialdemokraten eine Rückkehr zum Realsozialismus anstreben, wird Kwaśniewski nicht wählen wollen, denn alle Macht in den Händen dieser Partei bzw. der linken Regierungskoalition, das ist zuviel. Andererseits werden für Walesa oder Gronkiewicz-Waltz nicht mehr, wie gegen Tymiński, alle diejenigen zu mobilisieren sein, die nicht für Aleksander Kwaśniewski stimmen wollen. Das ungeklärte Verhältnis der „Union der Arbeit“ und der „Union der Freiheit“ zu den Postkommunisten erweist sich als ein schwerer Hemmschuh bei der Überwindung der Polarisierung. Einerseits gibt es keine konsequente Abrechnung und Ahndung der Verbrechen, andererseits – oder auch deswegen – kein Zusammengehen selbst dann, wenn man sich in der Sache einig ist. Dieser Wahlkampf wird die Parteienstruktur nicht unberührt lassen.
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