■ Klaus Kinkel antwortet Rupert Neudeck: Wir helfen Ruanda, können aber auch nicht alles Elend allein ändern
: „Ich lasse mich nicht düpieren!“

Sehr geehrter Herr Neudeck,

Ihren offenen Brief in der taz habe ich mit Aufmerksamkeit gelesen. Was mir am wichtigsten scheint: Über die Grundzüge der Politik gegenüber Ruanda, über das, was die Partner dieses leidgeprüften Landes tun sollten, sind wir uns offenkundig einig. Sie plädieren dafür, daß die Hilfe für Ruanda weder gestundet noch gestrichen wird. Daß wir bei unserer Fürsprache nicht blind sein dürfen – darüber brauchen wir sicherlich nicht zu debattieren.

Oberstes Ziel muß sein, Verhältnisse zu schaffen, die die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat erlauben, das heißt Sicherheit, rechtsstaatliche Verhältnisse und wirtschaftlicher Wiederaufbau. Allein kann die Regierung in Kigali dies auch beim bestem Willen nicht schaffen, sie benötigt die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft.

Sie wissen selbst, wie schwer diese Ziele umzusetzen sind, wie sehr sich dieses Land noch in einem durch den Genozid verursachten Trauma befindet. Ist es nicht nachvollziehbar, daß viele Ruander, die ihre Familienangehörigen unter grausamsten Umständen verloren haben, noch nicht frei von Rachegefühlen sein können? Bekommen diejenigen, die Ihnen sagen, „wir kriegen sie“, nicht ständig zusätzlichen Auftrieb, wenn sie von der anderen Seite der ruandisch-zairischen Grenze hören, daß es dort „Flüchtlinge“ gibt, die offen verkünden, daß „der Job in Ruanda noch nicht beendet ist“, und die sich auf den Tag X vorbereiten?

Unter solchen Rahmenbedingungen tut sich die Regierung in Kigali verständlicherweise schwer. Dennoch gibt es derzeit keinen Kenner der aktuellen Lage, der ihr den guten Willen, das Richtige zu tun, abgesprochen hätte – auch Sie nicht, Herr Neudeck!

Während meines kürzlichen Aufenthaltes in Ruanda war ich in der Tat besonders erschüttert über die Zustände in den Gefängnissen. Sofort nach meiner Rückkehr habe ich durch zahlreiche Telefonate, Gespräche und Briefe versucht, die internationale Öffentlichkeit aufzurütteln und zu konkreter Hilfe zu veranlassen: UN- Generalsekretär Butros Ghali, die EU-Kommissarin für Menschenrechte, Bonino, den Präsidenten des IKRK, Somaruga, der mich letzte Woche besucht hat; den über besondere Ruanda-Verbindungen verfügenden niederländischen Entwicklungsminister Pronck, mit dem ich auch in Bonn zusammengetroffen bin, und viele andere. Ich habe angeordnet, daß dem Roten Kreuz zusätzlich 2,5 Millionen DM für die humanitäre Betreuung der Gefangenen zur Verfügung gestellt werden, und habe veranlaßt, daß Fachleute in Kigali beim Wiederaufbau des Justizwesens helfen.

Das Ergebnis all dieser Bemühungen: Unter Federführung der Vereinten Nationen ist ein Aktionsplan zur Verbesserung der Gefängnis- und Justizsituation erarbeitet worden, mit dessen Umsetzung bereits begonnen wurde. Wichtiger noch: Das Problembewußtsein bei der ruandischen Regierung ist durch meinen Besuch und die inzwischen eingeleiteten Aktionen wohl doch geschärft worden. Das Bemühen, die unerträgliche Situation zu verbessern, ist erstmals klar feststellbar.

Ich kann hier nur auf einige zentrale Punkte Ihres offenen Briefes eingehen:

– Gegen die Überfüllung der Gefängnisse muß rasch etwas getan werden. Dies ist eine zutiefst humanitäre Frage. Da auch eine vorzüglich funktionierende Justiz nicht in der Lage wäre, innerhalb kurzer Frist alle Gefangenen vor Gericht zu stellen oder auch nur die Schuldigen von den Unschuldigen zu trennen, müssen vorübergehende Unterbringungsmöglichkeiten geschaffen werden. Im Gegensatz zu Ihrer Behauptung hat die Bundesrepublik Deutschland allerdings für diesen Zweck bisher keinen Pfennig zur Verfügung gestellt. Hierfür wird sie inzwischen sogar kritisiert, unter anderem von dem in diesem Bereich sehr aktiven IKRK, welches die menschenwürdige Unterbringung von Gefangenen als eine humanitäre Aufgabe ansieht und sich deshalb daran erstmals in seiner Geschichte beteiligt;

– Für die inhaftierten Kranken und Kinder habe ich mich während meines Aufenthaltes in Kigali besonders eingesetzt. Es ist nicht richtig, daß hier nichts passiert wäre! Der größte Teil der Kinder ist inzwischen in ein UNICEF- Zentrum in Gitagata gebracht worden, die restlichen Kinder sollen in Kürze folgen. Ein Teil der Kranken ist in Krankenhäuser verlegt worden, in Gitarama – wie Sie selbst schreiben – nach Angaben des IKRK zwischen 200 und 300;

– Verhaftungen wird es auch in Zukunft geben. Es entspricht auch nicht unserem Rechtsverständnis, daß Verbrecher von Haft verschont bleiben. Entscheidend ist, daß willkürliche Verhaftungen aufhören. Hierüber ist mit der Regierung sehr intensiv gesprochen worden, konkrete Zusagen liegen vor. Wir werden dies überprüfen. Allerdings hat die Regierung uns nachdrücklich darauf hingewiesen, daß sie beim Neuaufbau der Polizei dringend Hilfe braucht. Solange die Armee mit Aufgaben betraut wird, für die sie nicht ausgebildet ist, wird es vermutlich weiter zu Übergriffen kommen. Hier sind also auch die Partner Ruandas in der Pflicht!

– Um verstärkte Hilfe im Justizbereich habe ich mich, unter anderem in Gesprächen mit meiner Kollegin aus dem Justizressort und den Landesjustizministern in Baden- Württemberg und Rheinland- Pfalz, sehr bemüht. Der Aufbau des Justizwesens wird von uns in vielfältiger Weise unterstützt, unter anderem durch Aus- und Fortbildung von Hilfspersonal für Staatsanwaltschaften und Gerichte, Beratung durch deutsche Experten sowie erhebliche materielle Unterstützung bei der Ausstattung des Justizministeriums.

Sie fordern in Ihrem offenen Brief Garantien. Ich gehe weiter: Wichtiger sind für mich die Fakten, an denen sich die ruandische Regierung, auch und gerade die neuformierte Mannschaft unter Ministerpräsident Rwigema, messen lassen muß. Und hier konstatiere ich Dissens: Die Entwicklung in Ruanda ist nach meinem Besuch keineswegs nur ernüchternd bis makaber, es gibt vertrauensbildende Maßnahmen, sie bestehen nicht nur aus Worthülsen. Ich muß leider wieder einmal die Tendenz feststellen, daß nur die negativen Meldungen zur Kenntnis genommen werden. Und solche gibt es – dies sehe ich wie Sie – leider, erst kürzlich die schrecklichen Ereignisse in Kanama. Wissen muß man aber auch: Nacht für Nacht überschreiten kleine Terrorgruppen die Grenze, begehen in Ruanda Sabotageakte, ermorden friedliche Bürger, legen Minen auf stark befahrene Straßen, kürzlich sogar in die Einfahrt eines Krankenhauses!

Aber es gibt eben auch positive Entwicklungen. So sind etwa die kürzlich aus Zaire vertriebenen rund 15.000 Flüchtlinge in Ruanda ohne jeden Zwischenfall aufgenommen und in ihre Heimatdörfer weitergeleitet worden. Die Regierung hat inzwischen auch eingesehen, daß es Jahre oder Jahrzehnte dauern wird, wenn man alle Schuldigen des Genozids tatsächlich vor Gericht stellen wollte. Sie denkt daher über politische Entscheidungen nach, die Haftverschonung, Straffreiheit bei geringfügiger Schuld oder schnellere Aburteilung erlauben. Der ruandische Präsident wird in Kürze zu einem internationalen Kolloquium zu diesem Thema unter Beteiligung hochkarätiger Experten aus vielen Ländern einladen.

Vergessen wir nicht, daß auch die internationale Gemeinschaft aufgerufen ist, ihren Beitrag zu einer Stabilisierung der Verhältnisse durch Aufarbeitung der Vergangenheit zu leisten. Sie sprechen davon, daß das Gerechtigkeitsgefühl der Ruander nicht weiter beleidigt werden darf und daß erste Prozesse gegen die Anstifter des Völkermordes beginnen müssen. Dies ist die Aufgabe des internationalen Gerichtshofes, der in die Lage versetzt werden muß, rascher zu arbeiten. Hierfür setze ich mich ein.

Also: Ich lasse mich nicht düpieren! Wir können aber auch nicht allein alles Elend und alle Not schultern oder ändern. Wir werden der Regierung in Kigali weiterhin sehr deutlich sagen, was von ihr erwartet wird. Wir wissen allerdings auch, wie schwierig die Situation in einem Lande ist, in dem der Leichengeruch von fast einer Million Ermordeter noch in der Luft liegt. Die schwierigen Gespräche, die ich in Ruanda geführt habe und die der Afrika-Beauftragte in meinem Auftrag regelmäßig fortsetzt, können – ich bitte um Verständnis – auch nicht in allen Einzelheiten öffentlich kommentiert werden.

Lassen Sie uns der Regierung in Kigali eine faire Chance geben, sorgen wir dafür, daß das, was rasch geschehen kann, schnell umgesetzt wird. Haben wir aber auch, wo dies nötig ist, die erforderliche Geduld. Im übrigen: Sie wissen ja, daß ich diejenigen bewundere und unterstütze, die handeln. Sie gehören dazu. Deshalb haben Sie auch das Recht, das kritisch zu begleiten, was ich mich zu tun bemühe.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Klaus Kinkel