: Lehren wurden nicht gezogen
■ Vor einem Jahr sank die Fähre Estonia, 852 Menschen ertranken / Trauertag in Estland, Schweigeminute in Schweden, Proteste bei den Hinterbliebenen
Stockholm/Tallinn (taz/dpa) – Mit einer Mahnwache bei Kerzenschein gedachte die Bevölkerung der estnischen Hauptstadt Tallinn in der Nacht zum Donnerstag der 852 Toten, die vor einem Jahr bei dem Untergang der Fähre „Estonia“ in der Ostsee ertrunken waren. Freunde und Verwandte der Toten, darunter auch zahlreiche Schweden, versammelten sich dazu mehrere Stunden vor den offiziellen Trauerfeierlichkeiten auf einem kleinen Hügel über dem Hafen, von wo aus die Estonia zu ihrer letzten Fahrt aufgebrochen war.
Gestern läuteten die Glocken zum Gedenken an die Toten, die Flaggen in der 1,5 Millionen Einwohner zählenden Baltenrepublik wurden auf Halbmast gesenkt. Die neue Fähre der Linie Tallinn- Stockholm, die „Mare Balticum“, verließ genau zur gleichen Zeit wie ihre Vorgängerin den Hafen von Tallinn. Die größte Schiffskatastrophe in der Ostsee in Friedenszeiten hat die estnische Bevölkerung tief erschüttert. Mehr als die Hälfte der Befragten gab kürzlich in einer Umfrage an, bei dem Unglück einen Verwandten oder Bekannten verloren zu haben.
Mit einer Schweigeminute ist gestern in ganz Schweden der Menschen gedacht worden, die beim Untergang der Estonia ums Leben kamen. Um Punkt 12 Uhr Ortszeit legten Mitarbeiter aller öffentlichen Einrichtungen für 60 Sekunden ihre Arbeit nieder. Busse blieben stehen, und staatliche Rundfunkstationen unterbrachen ihr Programm für eine Minute der Stille.
Die Estonia war auf der Fahrt von Tallinn nach Stockholm im Sturm gekentert und gesunken. Von 989 Passagieren und Besatzungsmitgliedern hatten nur 137 überlebt. Die meisten Toten stammten aus Estland und Schweden. Viele Leichen liegen noch im Wrack.
Zur Ursache der Kastastrophe gibt es verschiedene Theorien. Dabei war recht schnell klar, was am Unglücksort 20 Seemeilen südöstlich der finnischen Insel Utö passiert war: Bei schwerem Sturm und einer Geschwindigkeit von 15 Knoten pro Stunde hält die Bugklappe der Autofähre dem Druck der sechs Meter hohen Wellen nicht stand und öffnet sich. Eine direkt dahinter angebrachte Auffahrrampe fällt nach vorn, die äußere Bugklappe wird dadurch weiter nach unten gedrückt und reißt ab. Innerhalb weniger Minuten läuft das Autodeck voll Wasser, und die „Estonia“ sinkt.
Unbeantwortet blieb seitdem die Frage, wer die Verantwortung für den zu schwachen Verschluß der Bugklappe und die falsche Anbringung der Auffahrrampe trägt. Als Angaben aus einem Zwischenbericht der Havariekommission an die Öffentlichkeit drangen, wonach Konstruktionsfehler beim Bau des Schiffes 1980 auf der deutschen Meyer-Werft in Papenburg den Bruch des Bugvisiers zumindest mitverursacht hätten, reagierte die Werft postwendend.
Die Werftleitung setzte eine eigene Kommission zur Untersuchung der Unglücksursache ein, die dann auch prompt andere Schuldige fand: Die Reederei Estline wegen unsachgemäßer Wartung sowie falscher Reparaturen der Bugklappe und die estnische Besatzung des Schiffes wegen „fachlicher Mängel“. Die letzte Theorie der Werft war vor wenigen Tagen, daß die Bugklappe mit etwa 150 Tonnen Wasser vollgelaufen war und die fehlerhaft geschweißten Scharniere daraufhin abgerissen seien.
Ganz und gar vernichtend fällt dagegen das Urteil der Hinterbliebenenorganisation „Den Internationella Supportgruppen“ (DIS) aus. DIS-Sprecher Bendreus über die Verbesserung der Sicherheit nach der Estonia-Katastrophe: „Wirkliche Konsequenzen werden nicht gezogen, weil alle wollen, daß das Fährgeschäft weiter floriert, das nur von geldgierigen Leuten betrieben wird.“ Bendreus hält vor allem die auf durchgehenden Autodecks basierenden Ro-Ro- Schiffe (Roll-on-Roll-off) für das eigentliche Sicherheitsproblem. rw
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