: „Sehr geehrte Redaktion ...“
Vorbei ist die Zeit des Günter Grass, Jostein Gaarder und Noah Gordon. Der Literaturbetrieb hat ab sofort einen neuen Star und die Bestsellerliste einen neuen Spitzenreiter: Walter Kutsch – Reich- Ranicki hergehört! – heißt der Schreiber der Saison.
Der Mann mit der hohen Denkerstirn ist kein junger Wilder, kein sprachverliebter Klon aus Durs Grünbein und Christian Kracht. Der Spätberufene ist 53 Jahre alt und auch sonst nicht gerade mit den Insignien der Hipness gesegnet. Beruf: Revisor; Arbeitgeber: Versicherungskonzern; Familienstand: glücklich verheiratet; Wohnort: Münster. Doch hinter der Fassade des Durchschnittsspießers lauern Abgründe: Kutsch erweist sich als wütender Mann des Wortes. Der ungekrönte Leserbriefkönig Westfalens hat sich nun selbst zum Buchautor geadelt: Sein erstes Opus „Sehr geehrte Redaktion ...“, eine Leserbriefanthologie im Selbstverlag, ist die heimliche Sensation des Bücherherbstes.
Hat irgendein Schlaumeier in „Sofies Welt“ mal wie Kutsch darauf hingewiesen, daß „presserechtlich abgesichertes Nichtabdrucken kritischer Anmerkungen ... nicht weniger feige (ist) als Nichtbeantworten von unliebsamen Briefen“? Oder hat Grass in seinem „Weiten Feld“ auch nur andeutungsweise auf die Hinterfotzigkeit einer Phrase wie „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“ hingewiesen, die Kutsch zufolge „auch gemein wirken kann, wenn unter Wille nur die Partikularinteressen der Reichen und Mächtigen verstanden werden“? Nein – sämtliche literarischen Riesen sind doch nur Zwerge gegen den kompromißlosen Kutsch, der seine in die Maschine gehackten und anschließend der täglichen Münsterschen Zeitung, den konkurrierenden Westfälischen Nachrichten oder dem Verbraucherblatt kaufen + sparen überantworteten Worte in unseren geistfernen Zeiten noch als wirkliche Waffen versteht. Als Waffen gegen die Mutter-Beimerisierung der örtlichen Sozialdemokratie: „Marion Tüns konnte mit ihrer stadtmütterlichen Pose allenfalls Mitleid erwecken.“ Oder als Waffen gegen die ewige Unpünktlichkeit des öffentlichen Nahverkehrs – als er die Stadtwerkechefs in einem Brief „bornierte Dilettanten“ hieß, antwortete man ihm prompt mit einem Strafantrag.
Des Autors Best-of-Zusammenstellung aus 30 Jahren professioneller Leserbriefschreiberei ist eine Zierde für jedes Bücherbrett, ein bunter Zitatenstrauß für 17,80 Mark. Und – Reich-Ranicki wird es unter heftigem Karasekschem Kopfnicken und sehr zum Ärger der Herren Gordon, Gaarder oder Grass vehement und wiederholt verkünden – natürlich „große Literatur“. Holger Jenrich
Walter Kutsch: „Sehr geehrte Redaktion ...“. Münster 1995, 140 S., 17,80 DM. ISBN 3-00-000244-8.
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