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An die Grenzen des Ekels

■ Fotografie als Pathologie: Martin Parrs gezielt kleine Welt

Die kurze Gasse in der Nähe des Centre Pompidou heißt Rue du Jour und ist dominiert von Agnes B., die dort ein paar Boutiquen mit Kleidung hat, einen Laden mit kleinteiligen Importen aus der Dritten Welt und eine Galerie, die Galerie du Jour. Es handelt sich dabei offenbar um eine ehemalige Schlachterei. An den Wänden ist bizarrerweise ein recht hoher Sockel gelblicher Kacheln belassen worden, und auch die stahlverkleideten Arbeitstische sind geblieben. Für die ausstellenden Künstler eher schwierig, ist das schrille Ambiente ein angenehmer Ort für die In-crowd, die sich kurz nach dem Rentrée dort einfindet. Martin Parr, der Fotograf, sitzt mit den Galeristen in der Glaskabine am Eingang, von wo aus die Geschäfte gesteuert werden.

Und Parr weiß sehr gut – mit vierzig – wie das Geschäft zu laufen hat. Er ist Mitglied der Agentur Magnum, reist für diverse Magazine um die Welt, hat rund ein Dutzend Bücher und Kataloge gemacht und ist zur Zeit in Paris nicht nur in der Galerie von Agnes B. zu sehen, sondern auch im Centre National de la Photographie. Martin Parr hat in England eine investigative und wenig schmeichelnde Farbfotografie mit durchgesetzt, deren Technik vor allem darin besteht, daß in Tageslichtszenen hinein zusätzlich geblitzt wird, was die Bilder kraß und plan macht und Menschen in papierne Gespenster verwandelt.

In der Galerie du Jour zeigt Parr recht kleine Farbfotos in kunsthandwerklich vergoldeten Holzrahmen, die fast ausnahmslos britisches Essen zeigen, verpacktes, gekochtes und angegessenes – gegen alle Regeln der Food-Fotografie und gezielt die Grenzen des Ekels auskostend. Andererseits erzeugt Parr mit seinen seriellen Nahsichten eine gleichbleibende Intensität, die das industrielle Essen sehr konkret und das von Menschen berührte entstofflicht aussehen läßt. Parrs Serie starrt auf einen Akt des Übergangs, auf die unauflösbare Opposition von Industrie und Gebrauch, Ware und Nahrung, Uneßbarem und schon Gegessenem.

In der Fotografie den Gegenstand zu verengen, heißt schnell ihm anheimzufallen – Sammler eines Sujets zu werden. Dem versucht Parr zu entgehen, indem er in die Serie Bilder mit hineinnimmt, die den Kontext eher verwirren als erweitern: Nahaufnahmen von Menschen, ein Kruzifix auf einer dicht behaarten Brust oder zwei eigenartig ineinandergekrallte Hände von Mann und Frau. Im dritten Raum der Galerie zeigt er wieder Food-Motive, diesmal als fotografische Doubles auf Porzellantellern, die an der Wand hängen. Wer es jetzt noch nicht begriffen hat, bekommt es mitgeteilt: Parrs Zynismus kommt als Schaf im Wolfspelz, aber ohne Pelz heißt das Schaf dann Ironie.

Die Mischung aus Besserwisserei und Unernst ist irritierend in der Fotografie von Martin Parr, der man allemal lassen muß, daß sie sich mit selten gewordener Detailsucht und ohne choreographisches Pathos dem Alltagsleben gewöhnlicher Menschen widmet. Parrs Standpunkt aber bleibt so unzweifelhaft moralisch wie flüchtig. Das zeigen auch die beiden Serien, die im Centre National zu sehen sind. Die eine widmet sich konformen Touristen, die andere handelt von Menschen und ihren Automobilen. Die Autoarbeit – sie heißt „From A to B“ – hat ein paar überraschende (eben fast schattenlose) Blicke in die glatten Interieurs von Vertreterautos, aber Parr findet keinen Modus für eine schlüssige Inszenierung. Den Fotos sind Texte beigestellt, die die Autobesitzer zitieren. Aber wie immer, wenn Authentizität erzwungen werden soll, fühlt man sich als Betrachter überrumpelt. In einem Hinterraum läuft zum gleichen Thema ein Video, das Parr mit einem Textautor für das britische Fernsehen gedreht hat, mit den gleichen Protagonisten: Die Sorglosigkeit des Fotografen bei der Wahl der Medien schlägt auf die Fotografien zurück.

Die andere Serie, „Small World“, ist auch als Buch erschienen und zeigt Parr in seinem Element: der ironischen Montage recht komplexer Szenen. Für Parr sind Touristen Konsumidioten, die sich mit Surrogaten billig abspeisen lassen. Die Enerviertheit reisender Familien und die Dickleibigkeit seiner Protagonisten nutzt er als bildrhetorisches Element, um die pathologische Begrenztheit des Unterfangens herauszustreichen.

Während Bildjournalisten bisweilen viel Aufwand treiben, um museumstaugliches Material zu erarbeiten und Künstlerfotografen die Durchlauferhitzung von Magazinen und Werbeträgern fürchten, ignoriert Parr die Grenzen auf leichten Füßen, beauftragt, gesponsort und gekauft von allen Seiten. Allerdings hinterläßt seine Arbeit den Eindruck, daß die Unschärfe der Rollenfrage auf seine Deutung fremder Rollenmuster durchfärbt.

Martin Parr hält sich an Leute, die irgendwie gesteuert erscheinen. Obwohl er die Szenen zentral ansteuert, taucht er hinter seinem Blitzlicht ab ins Unsichtbare. Sein Thema ist der Non-Stil, und je mehr man von ihm sieht, desto mehr holt es ihn ein. Ulf Erdmann Ziegler

Martin Parr: „Small World“ und „From A to B“, im Centre National de la Photographie, 11 rue Berryer, 8. Bezirk, bis zum 30. Oktober (Dienstag geschlossen). „Small World“ als Buch: Edition Braus, 96 Seiten, 78 DM

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