piwik no script img

Die Spielräume nutzen

Gesichter der Großstadt: Die Hohenschönhauser Gesundheitsstadträtin Bärbel Grygier will die erste PDS-Bürgermeisterin werden  ■ Von Christoph Seils

„Ich werde es!“ Natürlich, wer Wahlen gewinnen will, der muß an seinen Erfolg glauben. Bärbel Grygier ist davon überzeugt, daß sie nach den BVV-Wahlen am 22. Oktober für die PDS Bürgermeisterin von Hohenschönhausen wird. Die Aussichten für die parteilose Psychologin und derzeitige Gesundheitsstadträtin sind nicht schlecht. 44 Prozent erzielte die PDS in Hohenschönhausen bei den Bundestagswahlen. Nur drei, vier Prozent fehlen da zur absoluten Mehrheit von 23 Sitzen in der BVV. Und sollte es dazu nicht reichen, liebäugelt die 40jährige mit der einen oder anderen Stimme der Bündnisgrünen.

In allen Neubaubezirken am Ostrand der Hauptstadt kämpfen die Demokratischen Sozialisten mit um den Bürgermeistersessel. In Hellersdorf will Sozialstadtrat Uwe Klett Bürgermeister werden, in Marzahn Sozialstadtrat Harald Buttlar. Die größten Hoffnungen setzt die PDS auf Bärbel Grygier in Hohenschönhausen.

Die Zeiten der Ausgrenzung, als die Vorschläge der PDS- Stadträtin grundsätzlich abgelehnt wurden, sind in der BVV und dem Bezirksamt lange vorbei. Die Anti- PDS-Front in Hohenschönhausen ist längst zusammengebrochen. Noch einmal, so glaubt die Bürgermeisterkandidatin, lassen sich die Bündnisgrünen des Bezirks nicht gemeinsam mit SPD und CDU darauf einschwören. Zumal Bärbel Grygier in ihrem Ressort gut mit den Bündnisgrünen zusammenarbeitet. Kürzlich konnte sie den ehemaligen AL-Gesundheitsstadtrat von Wilmersdorf, Johannes Spatz, als leitenden Mitarbeiter gewinnen.

Doch Wahlkampf ist auch für die Gesundheitsstadträtin etwas Neues. 1992 kam sie aus dem Mitarbeiterstab der PDS-Bundestagsgruppe als Gesundheitsstadträtin nach Hohenschönhausen, und jetzt steht sie erstmals im Wahlkampf-Rampenlicht. Auf die Menschen in ihrem Bezirk zuzugehen fällt ihr nicht schwer. Routiniert frotzelt sie mit den Imbißverkäufern, berlinert mit Passanten oder muntert die über ihre Gebrechen klagenden Rentner auf.

Menschen für sich einnehmen zu können ist eine Stärke von Bärbel Grygier. Oder von ihr selbst anders ausgedrückt: „Als Stadträtin mußte ich lernen, wie man Leute über den Tisch zieht, ohne daß sie es merken.“ Ihr Gegenüber mit Witz, scharfen Worten oder klugem Taktieren zu entwaffnen, so macht Bärbel Grygier Politik. „Mir hat noch niemand etwas abgelehnt“, betont sie vor Selbstbewußtsein strotzend. Sogar mit dem heimlichen Gesundheitssenator, Staatssekretär Detlef Orwat, geht sie an die Sektbar, wenn sie ein Problem hat. Von dem CDU-Politiker spricht Bärbel Grygier mit viel Respekt und davon, was sie alles von ihm gelernt hat. Zum Beispiel: „wie man Mehrheitsverhältnisse aushebelt, um die eigenen politischen Spielräume zu erweitern“.

„Sie macht unkonventionell Politik“, so umschreiben ihre Freunde den Politikstil der Bürgermeisterkandidatin, allen parteipolitischen Disziplinierungsversuchen habe sie sich konsequent widersetzt. Sie sei „unberechenbar“ und „unzurechnungsfähig“, sagen ihre politischen Gegner in und außerhalb der PDS.

Unkonventionell ist auch ihr Lebensweg. Bevor Bärbel Grygier Psychologie studierte, versuchte sie sich als Lehrerin für Mathematik und Physik. Abwechslung in ihrem DDR-Alltag als Klinische Psychologin verschaffte sie sich bei Auftritten als Expertin für Partner- und Sexualprobleme im DDR-Fernsehen beim Jugendprogramm „11/99“.

Daß sie als Bürgermeisterin – wie schon jetzt als Stadträtin – nur die Vollzugsbeamtin des Senats ist und für die Umsetzung von Parteibeschlüssen und eigenen Ideen kaum Raum bleibt, will die Kandidatin so nicht gelten lassen. Sich an die Spielregeln halten sei das eine, aber gleichzeitig retten, was zu retten sei, und rausholen, was rauszuholen sei, das andere. Doch die Erfolge zerrinnen unter ihren Fingern.

Mit Beharrlichkeit und viel Überzeugungsarbeit hat sie Teile des öffentlichen Gesundheitssystems in Hohenschönhausen erhalten. Noch immer gibt es vom Bezirk angestellte Ärzte, die die bezirkliche ambulante Gesundheitsversorgung sicherstellen. Doch die Kassenärztliche Vereinigung sah in der pauschalen Vergütung der angestellten Ärzte durch die Krankenkassen eine versteckte Subventionierung, jetzt müssen sie einen Großteil der Arbeit im Punktsystem abrechnen. Die Freiräume für ganzheitliche Medizin werden dadurch wieder viel enger.

Ihrem möglichen neuen Amt und den damit verbundenen Zwängen sieht Bärbel Grygier gelassen und pragmatisch entgegen. „Ich habe nur eine Chance, wenn ich an den Sachfragen streite und Kompromisse suche.“ Die erste Amtshandlung, so scherzt sie: „Alle Stadträte einsperren und die Tür erst wieder aufmachen, wenn wir uns darauf verständigt haben, welche Sachen wir gemeinsam für unseren Bezirk anpacken wollen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen