Das Erdreich und der Aberglaube

■ Kurz vor dem ersten Spatenstich für den Tiergartentunnel in neuer Taschenbuchausgabe erschienen: Bernhard Kellermanns „Der Tunnel“ von 1913

Nichts geht mehr am Nachmittag – Stau statt Automobilität. Da heißt die Berliner Lösung: Uffjepasst, wir bauen einen Tunnel. Unter die Erde verbannt, wird der Stau unsichtbar. Als wäre er aufgelöst. Eine frühe Sandkastenphantasie – beim Berliner Tiergartentunnel wird sie Realität: Am 13. Oktober soll mit dem Bau des Auto- und Eisenbahntunnels direkt unter Berlins Mitte hindurch begonnen werden.

Der Senat scheint mit der Tunnel-Lösung dem populären Beispiel der Berliner Unterwelt zu folgen. Hatte nicht schon Karstadt- Erpresser Dagobert von unten her, bei der Geldübergabe in einem Abwasserkanal lauernd, die eigens für ihn gegründete Soko genarrt? Und gelang nicht erst im Juni den Zehlendorfer Geiselgangstern via Tunnel der Einbruch in eine Berliner Bank? Zugegeben: Zu guter Letzt siegten dann doch die Aufklärungskommandos der Polizei.

Was bleibt, ist der Traum vom Tunnel, und dies nicht erst seit gestern. 1913 erschien in Berlin mit einer Auflage von über 100.000 Exemplaren ein Roman, der das Tunnelmotiv zu einer gigantischen Phantasie ausspinnt. Bernhard Kellermanns Zukunftsroman „Der Tunnel“ erzählt die Geschichte vom großen Graben.

Als Kind muß der Ingenieur Mac Allan unter härtesten Bedingungen im Bergwerk arbeiten. Nach einem Grubenunglück kann er sich gerade noch aus dem Schacht befreien. Und als wollte er es der Erde heimzahlen: Mit derselben Härte, die er unter Tage erleiden mußte, will er von nun an gegen das Erdreich arbeiten.

Allan erfindet den diamantharten Werkstoff „Allanit“, mit dem er die Bohrköpfe für den Bergbau ausrüstet. Im festen Glauben an die Schlagkraft seiner Maschinen plant er, in nur fünfzehn Jahren einen submarinen Tunnel zwischen Europa und Amerika zu graben. Einen Tunnel, der den zukünftigen Massenverkehr zwischen den Kontinenten sicherer als die Titanic (die 1912 sank) ermöglichen soll.

Allans Projekt ist so naiv wie der Glaube, man müsse nur lange genug graben, um eines schönen Tages auf der anderen Seite herauszukommen. „Wieso kam es, daß die Tunnelkurve trotz kleiner Umwege um ein Fünfzigstel kürzer werden würde als der Seeweg?“ wird der Ingenieur von Journalisten gefragt. „Stich eine Nadel durch den Globus, und du weißt es!“ lautet die einfache Antwort. Bahnbrechende Erkenntnisse – doch im Roman geht es eigentlich gar nicht um die Erschließung eines neuen Verkehrsweges.

Kellermann beschreibt das Tunnelgraben als zweckloses Ritual, als „Religion unserer Zeit!“ Die wird nicht mehr in den alten Kirchen, sondern in den neuen Medien gepredigt. 1913 war dies der Film. „Edison Bio“ heißt Kellermanns große Filmgesellschaft. Die „machte immer noch glänzende Geschäfte mit ihrem wöchentlich neuen Tunnel-Film (...) Edison Bio zeigte die ganze Bibel der modernen Arbeit. Und alles mit einem bestimmten Ziel: dem Tunnel!“

Der Tunnel als Selbstzweck, ein Tunnel um des Tunnels willen: Bei der erneuten Lektüre des Kellermannschen Erfolgsromans beschleicht einen erschreckenderweise der Verdacht, auch das Projekt des Tiergartentunnels folge einer ähnlichen Unlogik. Und, wenn wir uns schon in der Welt dunkler Mächte und religiöser Rituale bewegen, um so erschreckender: Ausgerechnet am Freitag, dem 13. Oktober soll der erste Spatenstich für den Berliner Tunnelbau stattfinden. Joachim Grunwald

Bernhard Kellermann: „Der Tunnel“, Suhrkamp Taschenbuch, 17,80 DM, 375 Seiten