: Einmal freier atmen
Ken Loachs „Land und Freiheit“ ist eine Hymne auf die POUM-Kämpfer im Spanischen Bürgerkrieg ■ Von Christian Semler
Noch in den 60er Jahren trieb Rossifs Dokumentarfilm „Sterben für Madrid“ den APO-Aktivisten Tränen in die Augen. Der Kampf der Internationalen Brigaden zur Verteidigung der spanischen Republik war vielen linken Studenten ganz gegenwärtig, fast Bestandteil einer imaginierten Biographie. Sie empfanden sich als Erben der Niederlage, wollten – die Enkel fechten's besser aus – den Lauf der Geschichte umkehren. Wie sehr fühlten sie sich dem Enthusiasmus derer verbunden, die nach der Katastrophe von 1933 darauf brannten, vor Madrid mit den Faschisten abzurechnen!
Für Emotionen dieser Art kommt Loachs Film 20 Jahre zu spät. Längst ist das Band der Erinnerung zerrissen. Guadalajara, Brunete, Teruel – Provinznester, deren Namen keiner mehr kennt. Der spanische Faschismus wurde nicht weggefegt, er transformierte sich friedlich, fast geräuschlos. Francos Würdenträger stürzten nicht, sie stolperten ohne größeren Unfall die Treppe zur parlamentarischen Demokratie herunter. Keine Abrechnung, keine Katharsis. Täter und Opfer, alt geworden, mißmutig, unversöhnt, gehen sich so gut es geht aus dem Weg. Angesichts viel größerer Enttäuschungen schrumpft die Erinnerung an den Todeskampf der spanischen Republik auch bei den Linken Europas zu einer Episode im Jahrhundert der Barbarei.
Loachs Film stellt diese Gemütslage in Rechnung und ignoriert sie zugleich vollständig. „Land und Freiheit“ („Land and Freedom“) verzichtet auf ein Deutungsschema des spanischen Bürgerkriegs, das seine Anziehungskraft aus der retrospektiven Sehnsucht nach der gemeinsamen antifaschistischen Aktion zöge, nach der Einheit von Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten, linken Christen und Liberalen im Kampf um die Republik. Diese Einheit hat es nie gegeben, an den Fronten des Krieges genauso wenig wie später in Buchenwald.
Ken Loach gewinnt Genauigkeit und Schärfe gerade daraus, daß er den nachträglichen, verlogenen Antifaschismus verwirft. Den Antifaschismus der Kommunistischen Partei, die seit 1937 im Namen der Einheit ihre Terrorkampagne gegen alles führt, was sich revolutionär nennt und in Konkurrenz zu ihr tritt. Den Antifaschismus der Madrider Regierung, die die revolutionären Massenbewegungen auf dem Altar „zuerst Franco besiegen“ opfert und damit dem Widerstandskampf die Seele ausbrennt.
Gerade diese doppelte, schroffe Abgrenzung schafft Loach historischen Freiraum; Raum, um uns eine Geschichte zu erzählen, die zu schön, zu bewegend ist, um wahr zu sein. Ein junger Arbeiter aus Liverpool, Mitglied der Kommunistischen Partei, will sich dem Kampf gegen die Faschisten anschließen. Aus schierem Zufall gerät er in eine Gruppe, die unter dem Fähnlein der POUM, einer radikal- kommunistischen, antistalinistischen Partei, kämpft. Er findet dort, in der bunt zusammengewürfelten Schar, Enthusiasmus, Mut, Überzeugungstreue, Solidarität, konsequent praktizierte Gleichheit und Demokratie; er findet sogar Liebe. Für ihn ist es der „Sozialismus in Aktion“. Und zur gleichen Zeit durchleidet er die Erfahrung, daß seine eigenen Genossen, die moskautreuen Kommunisten, ein absolut skrupelloses, menschenverachtendes Spiel spielen. Er zerreißt sein Parteibuch, aber bleibt der revolutionären Sache treu. Als ihn, Jahrzehnte nach dem Bürgerkrieg, seine Kameraden in England beerdigen, wickelt eine junge Genossin eine Handvoll Erde aus rotem Tuch und wirft sie auf den Sarg. Loachs Held hat sie aufbewahrt. Sie stammt vom Grab seiner Gefährtin, die hinterrücks erschossen wurde – von den Truppen der Republik.
Ein Bildungsroman, der, ungleich seinen bürgerlichen Vorbildern, den Helden unversöhnt mit der Welt zurückläßt. Vorbild für Loachs Geschichte ist Georg Orwells „Hommage to Catalonia“ von 1937. Ihr entlehnt er das Kolorit, zahlreiche Episoden, nicht zuletzt die Schilderung der schrecklichen „Ereignisse“ vom Mai 1937 in Barcelona, in deren Gefolge die POUM mit der Anklage des versuchten Staatsstreichs überzogen, illegalisiert und ihr Führer, Andrés Nin, von der kommunistischen Gestapo ermordet wurde. Aber die Grundtendenz von Orwells Erlebnisbericht ist verändert: es fehlt die Distanz des (intellektuellen) Ich- Erzählers, der Abstand auch zu den revolutionären Genossen, die Ernüchterung.
„Land und Freiheit“ ist ein Hymnus darauf, wie edel, wie menschenverbrüdernd und verschwisternd der Sozialismus hätte sein können. Deshalb kämpfen seine Protagonisten in den Reihen der POUM, die den Anarchisten zu leninistisch, den Stalinisten zu trotzkistisch, den Sozialisten zu revolutionär und Trotzki zu läppisch war – eine Partei der unschuldigen Opfer, das richtige Fundament, darauf nachträglich eine Utopie zu bauen. Aber eine Utopie, die nicht unter dem Zwang zur Lüge steht. Das unterscheidet Loachs Film von einem anderen utopischen Versuch biographischer Selbsterfindung: Peter Weiss' „Die Ästhetik des Widerstands“. Was dort im Gespräch der antifaschistischen Freunde über die POUM verhandelt wird, kann sich dem Rechtfertigungsdruck nicht entziehen – die Ungeduld der Radikalen habe zur Schwächung der republikanischen Sache geführt. Und nicht das Alter ego von Weiss ist es, von dem die Wahrheit über den Tod von Andrés Nin zu hören ist. Eine linke Bankierstochter spricht sie aus.
Loach ist Utopist, aber kein Idylliker. Die Szenerie des Krieges (er hat sie vom Norden Aragons ins Hügelland westlich von Teruel verlegt) ist präzise nachkonstruiert. Ein Stellungskrieg von einer Anhöhe zur anderen, der faschistische Feind in Rufweite. Die Frauen und Männer der POUM- Miliz leisten erfolgreich Widerstand, sie erobern sogar ein von den Faschisten besetztes Dorf im Tal. Aber sie sind keine „glorreichen Sechzehn“, verfügen über keinerlei Listen und Finten, sind nicht mal besonders heroisch. Nahkampf ohne Hollywood. Loach hat jedem der Milizionäre ein eigenes Leben gegeben, eigene Hoffnungen – und einen eigenen, unbequemen Verstand.
Deshalb auch sind gerade diejenigen Szenen, wo erbittert, wo ausufernd debattiert wird, die besten des Films. Lange, kreisende, kaum von Schnitten unterbrochene Sequenzen verdichten den Streit der Protagonisten. Die linke Rhetorik der dreißiger Jahre, wo jeder individuelle Entscheid mit den Erfordernissen der Weltrevolution bewiesen, ausgedrückt, überhöht wird, diese Mixtur aus Pathos und kalter Analyse, Loach hat sie virtuos nachempfunden. Einmal geht es darum, ob die Miliz sich ins republikanische Heer integrieren, ob Ränge und Abzeichen eingeführt, Frauen vom Gebrauch der Waffen ausgeschlossen werden sollen. Heißt das Gebot der Stunde nur, die republikanischen Institutionen und Freiheiten zu verteidigen, und dies mit den Mitteln konventioneller Kriegsführung? Soll man Rücksicht nehmen auf die liberale Bourgeoisie, aufs westliche Ausland? Oder können die Faschisten nur besiegt werden, wenn die gesellschaftliche Befreiung im und durch den Krieg vorangebracht wird?
Das andere Mal erleben wir eine Bauernversammlung in dem befreiten Dorf. Es geht um die Frage Kollektivierung des Bodens oder Gemeinbesitz, und die Milizionäre sind aufgefordert, ihre Meinung beizusteuern. Reichlich konstruiert, sollte man denken, aber historisch genau. Im Gegensatz zur anarcho-syndikalistischen CNT, der stärksten Kraft in Katalonien und im benachbarten, freien Teil Aragons, kollektivierte die POUM nicht umstandslos, sondern überließ die Entscheidung der Dorfversammlung. Und die beschließt in Loachs Film schließlich die Kollektivierung, und sei es nur darum, einmal im Leben freier atmen zu können.
Der sozialistische Realismus als Doktrin war fast immer ein Vehikel der Lüge gewesen. Er schematisierte die Fronten, typisierte die Charaktere, nahm den Zuschauer am Händchen, um ihm die lichte Zukunft zu zeigen. Loach stützt sich auf keinerlei historische Tendenz, auf kein trügerisches Lichtzeichen, das vom schließlich guten Ende künden würde. Er setzt einer versprengten, vergessenen Gruppe von Revolutionären ein Denkmal und appelliert damit wider alle Realität an eine Hoffnung. Wenn es heute noch „sozialistischen Realismus“ gibt, dann ist „Land und Freiheit“ seine zeitgemäße Form.
„Land und Freiheit“. Regie: Ken Loach. Mit: Ian Hart, Rosana Pastor, Tom Gilroy, u.a. , GB 1994, 109 Min.
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