Blühende Tischplatten

■ Subjektiv und selbstbewußt: Polnische Autorinnen im LCB

Lena, Protagonistin der Erzählung „Weiße Inseln“ von Hanna Kowalewska, besitzt eine erstaunliche Fähigkeit: Sie kann im Bewußtseinsstrom ihres Mannes Arno schwimmen. Mit seinen Augen sieht sie nicht nur behaarte Stuhlbeine oder blühende Tischplatten, sondern auch Fragmente von sich – ihren Zeh, ihre Lippen und – besonders oft – ihren Hals, der sich giraffenhaft in die Länge zieht. Einmal gelingt es ihr, die Bruchstücke zu einer strahlenden Vision zusammenzusetzen, dann aber bleiben nur „ein schwarzer Brei, eine teerige Falte, zerpflügte lehmige Erde“. „Weiße Inseln“ kreist – manchmal allzu kryptisch – um den alten Wunsch, in die Gedanken eines anderen eindringen zu können. Entnommen ist die Erzählung dem Band „Ein Hut mit grünen Eidechsen“, den die 26jährige Kowalewska nächste Woche im Literarischen Colloquium Berlin vorstellen wird. Neben ihr werden noch fünf weitere, bisher kaum ins Deutsche übersetzte Schriftstellerinnen aus Polen lesen.

Mit Ausnahme der Lyrikerin Mira Kuś, die in den siebziger Jahren erste Gedichtbände veröffentlichte, handelt es sich um Prosaautorinnen, die in den letzten Jahren zu publizieren begonnen haben. Dorota Kerski, die die Lesungen im Rahmen von „grenzenlos Warschau–Berlin“ organisiert hat, sieht hierin eine wichtige Tendenz der polnischen Literaturszene gespiegelt: „Nach 1989 haben die Frauen angefangen zu schreiben, und in den Prosadebüts haben sie jetzt schon die Oberhand gewonnen.“

Dafür gibt es viele Gründe. Vor allem haben die Frauen an Selbstbewußtsein gewonnen. Daneben erhalten sie Anregungen durch Literatur, die zuvor nicht zu bekommen war, sie können reisen, und sie haben die Möglichkeit zu veröffentlichen, da viele kleine Verlage entstehen – auch wenn diese oft schon nach zwei oder drei Publikationen aufgeben müssen. Die Kritik reagiert mit großem Interesse, nur die Finanzierung bleibt problematisch: „Es ist nicht möglich, vom Schreiben zu leben“, sagt Kreski, „die alten Fördermechanismen sind zusammengebrochen, und die neuen sind noch nicht entstanden.“

Dennoch arbeiten die Autorinnen nach ihren Debüterfolgen an neuen Projekten. Oft weisen ihre Texte in eine andere Richtung als die der männlichen Kollegen. Denn sie zeichnen interessante, starke Frauenfiguren, bestechen durch psychologisches Einfühlungsvermögen und stellen – wie etwa Kowalewskas Erzählung – die subjektive Wahrnehmung der Protagonistin in den Vordergrund. Kerski sieht hierin eine Art „femininen Schreibens“, einen entfernten Verwandten der vielzitierten „écriture feminine“ vielleicht – und das hat es so in Polen noch nicht gegeben. Cristina Nord

17.10.: Mira Kuś und Anna Bolecka; 18.10.: Olga Tokarczuk und Magdalena Tulli; 19.10.: Natasza Goerke und Hanna Kowalewska, 20 Uhr, Literarisches Colloquium Berlin, Am Sandwerder 5, Wannsee