Naturparadies in Nöten

Zwei Jahre nach der Havarie des Tankers „Braer“ vor den Shetlandinseln steckt die Tourismusbranche in der Krise. Jetzt sollen die Ölfelder im Atlantik ausgebeutet werden  ■ Von Hans-Jürgen Marter

„Wenn dort draußen ein größerer Unfall geschieht“, sagt Jonathan Wills, Umweltschützer und jahrelanger Kritiker der Ölindustrie, „dann können die in drei von vier Fällen nichts dagegen tun.“ Der Vergleich zum Tankerunglück der „Exxon Valdez“ vor der Küste Alaskas dränge sich geradezu auf: das gleiche dickflüssige Öl, die gleiche nördliche Breite und ähnlich rauhes und unberechenbares Wetter. Allein drei Milliarden US-Dollar flossen zwischen 1989 und 1995 in die medienwirksam organisierte Reinigung der Sauerei, wenn auch vergeblich: nur jede zehnte Tonne Öl konnte geborgen werden. Noch heute wird mit jeder Flut neues Öl an die Küste des Prince-William- Sundes gespült.

Der Vorlesungssaal des North Atlantic Fisheries College in Scalloway ist gut gefüllt. Knapp 100 besorgte Shetländer und Shetländerinnen wollen wissen, ob die Entwicklung der Ölfelder westlich der Inseln – allen voran das Foinaven- Feld – Segen oder Fluch für den Archipel bedeutet. Doch Tom Fyfe, bei British Petroleum (BP) Exploitation in Aberdeen zuständig für die Ausbeutung der neuen Ölfunde, mochte sich nicht auf den Weg in den hohen Norden begeben. Man habe die Angelegenheit bereits ausführlich diskutiert, so die lakonische Ausrede seitens des Ölmultis.

Schon im Januar 1996 will BP täglich bis zu 80.000 Barrel Rohöl aus 500 Meter Wassertiefe auf eine schwimmende Produktions- und Speichereinheit (FPSO) fördern. Seegehende Tanker sollen von dort ohne den Umweg über einen Umschlaghafen das Öl direkt exportieren. Diese Technik gilt anderswo als zuverlässig, unter den rauhen Bedingungen des Nordatlantiks mit seiner nicht enden wollenden Folge von Winterstürmen, meterhohen Wellen und starken Strömungen ist Off-shore-Verladung bislang nicht erprobt.

Hier setzt dann auch die Kritik der kundigen Bevölkerung an. Wozu eigentlich beherbergt Shetland den größten – und zugleich auch saubersten – Ölterminal Europas, so fragt man sich, wenn dieser nicht für das Wohl der Bevölkerung, der Umwelt und letztlich auch der Ölindustrie genutzt wird. Da die Ölproduktion in der Nordsee ab 1996 um jährlich 3 Prozent abnehmen werde, so Tony MacKay, Wirtschaftswissenschaftler bei MacKay Consultants in Inverness, verfüge der Terminal Sullom Voe über ausreichende Kapazitäten, um Atlantiköl aufzunehmen. Die Bevölkerung plädiert daher für den Bau einer Pipeline, mit Abstand die sicherste Methode, Öl zu transportieren.

Davon aber möchte BP gar nichts wissen, wäre die Ausbeutung des Foinaven-Feldes damit noch für einige Jahre auf Eis gelegt. Weitere Ölfelder, wie zum Beispiel Shiehallion, müßten zunächst erschlossen werden. Für Tony MacKay, dessen Büro eng mit der Ölindustrie zusammenarbeitet, ist eine Pipeline erst dann wirtschaftlich, sobald täglich 225.000 Barrel hindurchfließen.

Doch geht es den Menschen der Shetlandinseln nicht nur um den Erhalt ihrer einzigartigen Umwelt: Hunderte von Arbeitsplätzen hängen ebenso am Öl. Etwa 800 Jobs würden verlorengehen, sollte der Terminal mit dem schrittweisen Versiegen der Nordseeölquellen seine Kapazitäten abbauen. Der seit dem Ende der siebziger Jahre andauernde wirtschaftliche Boom wäre dahin. Daher will man das Atlantiköl, obwohl es kaum mehr als zwei Jahre her ist, als im Januar 1993 der Öltanker „Braer“ mit 85.000 Tonnen Rohöl an Bord an der Küste havarierte und kein Tropfen seiner giftigen Ladung geborgen werden konnte.

Dramatische Bilder gingen damals um die Welt. Zehn Tage lang hämmerten haushohe Wellen auf den 241 Meter langen Tanker ein, bis der Riese in vier Teile zerbrach und im Meer versank. Die Zukunft des Archipels schien rabenschwarz, doch schon am nächsten Tag war die Ölpest vorüber. Derselbe Sturm, der den Tanker an die Küste geworfen hatte, sorgte auch für die anstehenden Aufräumarbeiten.

Die „Braer“ hatte norwegisches Öl des Gullfaks-Feldes geladen. Dieses Öl ist im Gegensatz zum Atlantiköl derart leicht, daß es keinen Ölteppich bildet und in stürmischem Wasser aufbricht. So kam es, daß die Shetlandinseln mit einem blauen Auge davongekommen sind. Bislang konnten Lachsfarmer, Fischer und Landwirte umgerechnet 93 Millionen Mark an Schadensersatzgeldern einstreichen. Die berühmten Vogelfelsen – das Kapital der Tourismusbranche – sind heute wieder ebenso bevölkert, wie sie es vor der „Braer“- Havarie waren. Spuren der Katastrophe lassen sich nicht mehr entdecken.

Trotzdem bleiben die Urlauber weg. Seit 1993 ist der Fremdenverkehr auf dem Archipel um 20 Prozent zurückgegangen. Folge der zumeist negativen Berichterstattung, wie Maurice Mullay, Geschäftsführer von Shetland Islands Tourism, herausgefunden haben will. Maurice Mullay beziffert den Umsatzausfall über die nächsten Jahre auf rund 40 Millionen Mark. Seit zwei Jahren jettet er durch die Welt, um den angerichteten Schaden wettzumachen. Doch kaum daß die Buchungszahlen wieder im Steigen begriffen sind, droht schon die nächste Gefahr. „Ich muß zugeben“, sagt der Tourismusboß, „daß wir im Fremdenverkehrsverein die Entwicklung westlich von Shetland verschlafen haben. Es vergeht kaum ein Tag, an dem wir die ,Braer‘ nicht erwähnen, die geplante Off-shore-Verladung im Atlantik hingegen haben wir noch nicht einmal diskutiert. Wenn Sie aber meine persönliche Meinung hören wollen: ich bin total dagegen.“

Maurice Mullay weiß: Noch einmal wird Shetland nicht so glimpflich davonkommen. Berechnungen von BP zufolge könnte ein Ölteppich die Insel innerhalb zweier Tage erreichen. Die Folgen für die noch weitgehend intakte Natur wären unkalkulierbar.

Iain Robertson von Shetland Wildlife Tours verdient seinen Lebensunterhalt mit der intakten Natur. Der Fremdenführer wartet am vereinbarten Treffpunkt im Zentrum des Hauptortes Lerwick. Gemeinsam wollen wir uns auf die Fährte des Otters begeben. Shetland besitzt die größte Otterpopulation Europas. Die sich tief ins Land schneidenden Buchten, im einheimischen Dialekt „Voe“ genannt, bieten ideale Lebensbedingungen für die scheuen Tiere.

Doch so genau weiß keiner, wie viele der eleganten Jäger in den Voes leben. „Zählungen sind sehr unzuverlässig“, erklärt Iain Robertson, „denn der beständige Wechsel von Wasser und Land, der so charakteristisch für Shetland ist, macht es unmöglich, die Territorien einzelner Tiere zu bestimmen. An Flußläufen sind Zählungen hingegen sehr akkurat.“

Lachsfarmer, die mittlerweile nahezu jeden Voe für ihr einträgliches Geschäft beanspruchen, behaupten jedenfalls, es gäbe zu viele Otter. Das gleiche gelte im übrigen auch für Seehunde. Doch während Otter angesichts ihrer Größe kaum in der Lage sein dürften, einen ausgewachsenen Lachs aus den Käfigen zu erbeuten, gibt es gegen Seehunde effektive Abwehrmechanismen. Wenn aber trotzdem regelmäßig Otter in der Nähe von Lachskäfigen beobachtet werden, dann hat das einzig seine Ursache in der Tatsache, daß Lachsfarmer wie Otter den gleichen Lebensraum bevorzugen: die geschützten Gewässer der Voes.

Während der Wintermonate führt Iain Robertson Vogelenthusiasten in den afrikanischen Busch, zwischen April und September aber zieht er es vor, auf den heimischen Shetlandinseln zu arbeiten. Für einen Bird-Watcher gibt es hier alle Hände voll zu tun. Die Hälfte der jährlich nach Shetland reisenden Erholungsuchenden kommt wegen der Vögel. Die Vogelklippen von Hermaness, der Insel Noss und von Sumburgh Head sind weltberühmt. Baßtölpel, Trottellummen, Papageientaucher und Tordalke brüten hier zu Tausenden. Die fischreichen Gewässer um Shetland und seine schroffen Klippen bieten ideale Brutbedingungen. Zwischen Mai und Juli – wenn die Sonne nur für kurze Zeit hinter dem Horizont verschwindet und es auch um Mitternacht taghell ist – herrscht entlang der Küste eine ohrenbetäubende Geschäftigkeit. Doch sind es nicht nur die Klippen, die Shetland zu einem Eldorado für Vogelliebhaber machen. Hochmoore und Heideflächen, eine Landschaft, die andernorts entwässert, kultiviert und somit zerstört ist, bieten wichtige Rückzugsgebiete für gefährdete Vogelarten wie den Regenbrachvogel, die Schmarotzerraubmöwe und die Große Raubmöwe. Drei Viertel des britischen Bestandes der eleganten Nordseetaucher brüten in den 350 Seen des Archipels.

Die 700 Arbeitsplätze in der Tourismusbranche hängen unmittelbar von einer intakten Umwelt ab. Drei Nationalparks und 71 Naturschutzgebiete beanspruchen immerhin 10 Prozent der Inselfläche.

Während der Podiumsdiskussion in Scalloway war kein Zuhörer bereit, das Vogelparadies Shetland für den vorübergehenden Reichtum zu opfern, den ein Ölfeld bringt, das eine Lebensdauer von 12 Jahren besitzt. Nur werden die Entscheidungen bei BP nach anderen Maßstäben getroffen.

Shetland: Wind ist das vorherrschende Wettercharakteristikum, windstille Tage sind die große Ausnahme, eine steife Brise ist allgegenwärtig.

Auskünfte: Britische Zentrale für Fremdenverkehr, Taunusstraße 52–60, 60239 Frankfurt,

Tel.: 069-2380711, Fax 069-2380717 – Shetland Island Tourism, Market Cross, Lerwick, Shetland Islands, Scotland, UK, Tel. 0044-1595-69 34 34, Fax 0044-1595-69 58 07

Literatur: Wolfgang Schlick, „Die Orkney- und Shetland-Inseln. Landschaft und Kultur im Nordatlantik“, DuMont, 44 DM