: Den Körper zerbrechen
Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1995 vergangenen Samstag in Darmstadt ■ Von Durs Grünbein
Was haben die Schädelnerven der Wirbeltiere mit Dichtung zu tun? Was sucht die vergleichende Anatomie im Monolog des dramatischen Helden? Welcher Weg führt von der Kiemenhöhle der Fische zur menschlichen Komödie, von rhythmisierter Prosa zur Ausstülpung des Gehirns in den Gesichtsnerv? Seltsame Fragen, sie allein zeigen an, wohin es führen mußte, wenn Literatur sich auf das Reale einließ, wenn den Stil das Naturstudium prägte, der zoologische Fakt und das ärztliche Gutachten Einzug hielten in Novelle und Drama ... bis das Genre gesprengt lag, Fragmente die Folge, fieberhafte Notate, somatische Poesie. Einer der wenigen, die diese Fragen hätten beantworten können, ist tot, jung gestorben an Typhus, infiziert, wie man annimmt, beim Aufschneiden von Fischpräparaten, ein Dichter, einzigartig, sein Name Georg Büchner. Ich gebe zu, daß mir die Knie gezittert haben, beim Gedanken eines Tages über ihn sprechen zu müssen, jetzt ist es soweit, und ich versuche ruhig Blut zu sein.
Denn es steht hier, zumindest aus meiner Sicht, mehr auf dem Spiel als die jährliche Visite eines unklassischen Klassikers. Es geht, denkt man Büchner zu Ende, um einen Wendepunkt in der Literatur, um eine Drehung der Perspektiven in genau dem Augenblick, da ein deutscher Philosoph ein Gespenst an die Wand malte. Und dieses Gespenst hieß Der Tod der Kunst.
Wenn der Urteilsspruch stimmt, dann war Büchner einer der ersten am Grab, dann ist sein Werk der früheste Kommentar zum eröffneten Testament. Büchner hat – und das ließe sich zeigen, ich will es hier nur behaupten – einen Ausfall gewagt, einen Befreiungsschlag in höchster Bedrängnis. Mit einem Salto mortale hat er die Dichtung von der Zumutung befreit, hinwegspielen zu müssen gleichermaßen über das elende Reale wie über das reale Elend. Was ihm gelang, war nichts Geringeres als eine vollständige Transformation. Physiologie aufgegangen in Dichtung. Und es war nicht ein Sonderweg, wie sich herausgestellt hat, es war der Anfang einer Versuchsreihe, die bis zum heutigen Tag fortgeführt wird. Faßt man Dichtung als eine eigene Sprache neben all den anderen Sprachen auf, dann war hier ein Großteil aller ihrer Beugungsformen modifiziert worden, zum Vorschein kam eine härtere Grammatik, ein kälterer Ton: das geeignete Werkzeug für die vom Herzen amputierte Intelligenz.
Es war ein langer Weg bis dahin, in Riesenschritten hat er ihn, am Druck der Verhältnisse stärker werdend, zurückgelegt, schneller parierend mit jedem Stück, weitergreifend mit jedem neuen Entwurf. Dantons Tod, der große Abschiedsgesang, auf mehrere Stimmen verteilt, die Phrase vom Stoßseufzer durchbohrt, Lebenshunger und Todessehnsucht verkörpert in zwei, drei unsterblichen Figuren. Oder Lenz, atemloser Bericht einer Selbstauflösung, ein Ich, das wie Wasserdampf im Gebirge zerstiebt. Woyzeck, der Kriminalfall als Krankengeschichte, mit einem Symptom so groß wie das ganze Kleinstaatendeutschland der Zeit. Wie beschämend für Spätere ist das Tempo, in dem er die Formen durcheilte. Es ist, als hätte er alle literarischen Genres schnell hinter sich bringen wollen, um sich ganz dem Naturstudium zu widmen ... als sei nur hier Aufschluß zu erwarten gewesen über den wahren Antrieb, die Energien im Innern der Körper: Affekte, der Stoff, aus dem Geschichte gemacht ist. Jeder kennt die berühmten Zeilen und auch ihr Echo. „Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren“, sagt Daton im ersten Akt; und fällt sich im zweiten Akt selbst ins Wort: „Es wurde ein Fehler gemacht, wie wir geschaffen worden, es fehlt uns was, ich habe keinen Namen dafür, wir werden es uns einander nicht aus den Eingeweiden herauswühlen, was sollen wir uns drum die Leiber aufbrechen?“ Zwischen der einen und der anderen Äußerung tut sich ein Abgrund auf. Es ist der Abgrund, in dem die Körper verschwinden. In dem neuen, grausamen Licht, das von da unten heraufstrahlt, erscheint Geschichte als diese Zwischenzeit, in der das Letzte Tier dem Ersten Menschen begegnet: Er selbst ist dieses Letzte Tier. Im Aufklärungsdunkel, tief im Schlaf der Vernunft, in der immer wieder hereinbrechenden Gewissensnacht hat Büchner es auftreten gesehen. Und manchmal schlug sein Erschrecken um in Gelächter, in monologischen Ingrimm.
Michelangelo hat die Szene festgehalten. Eine seiner flüchtigen Skizzen zeigt eine nächtliche Leichenöffnung: Zwei Halbvermummte machen sich an dem leblosen Körper zu schaffen, im Licht einer Kerze, die aus dem aufgeschnittenen Bauch herausragt. Es ist eine Zeichnung in der Manier der Schauergeschichten, die der Mensch sich von seinem Ende erzählt. In ihrer Fieberhaftigkeit gleicht sie dem gedrängten Geschehen in Büchners Fragmenten.
Hier möchte ich innehalten ... um hinzuweisen auf eines der Zentren in diesem Werk, das so viele Zentralstellen hat, die Germanistik kann ja ein Lied davon singen. Die Szene ist ein Studierzimmer in Straßburg, und darin sitzt ein junger Mann mit sehr hoher Stirn, über Bücher, Lupen und tote Fische gebeugt. Ein Vierteljahr lang kommt er nicht aus den engen vier Wänden. Sezierend und zeichnend, verbringt er den vorletzten Winter, das vorletzte Frühjahr seines Lebens an seiner Dissertation, halbtot von Arbeit, getrieben von der Aussicht auf eine Privatdozentur, die dem politischen Flüchtling das sichere Schweizer Exil verhieß. Aus der kleinen Schrift, die in diesen Wochen entsteht, einer Studie zum Kopfnervensystem der Barben, wird später die Züricher Probevorlesung mit dem schlichten Titel Über Schädelnerven. Ich habe sie immer als Bruchstück einer Konfession gelesen, als eine Art literarisches Manifest. Läßt man einmal alle zeitbedingten Hypothesen beiseite, von denen einige bald überholt waren, so fällt daran sofort die Akribie auf, mit der er
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den einzelnen Nerv isoliert und in Augenschein nimmt. Liegt nicht darin, bei einem Dichter von seinem Format, mehr als nur zufälliges Zusammentreffen, eine wichtige Spur vielleicht, der Ansatz zu einer Verästelung ins ganze Werk? Ohne den Riß zwischen Dichtung und Naturkunde bei Büchner verdecken zu wollen, ohne sein Menschenbild zu reduzieren auf zwei, drei zoologische Annahmen — der Gegenstand selbst spricht dafür, daß er hier Aufschluß suchte, gerade hier, über etwas, das der ganzen kreatürlichen Existenz ihre Richtung gab. Kaum anders ist sein Beharren auf dem sensorischen Apparat zu begreifen. Büchner geht biologisch dem nach, was literarisch längst untergründig sensible Wurzeln getrieben hatte in ihm.
Was ist ein Nerv, fragt er sich. Wohin verläuft er und wo läuft er zusammen? Wozu hat er sich stammesgeschichtlich entwickelt? Gibt es nervliche Grundformen, die immer wiederkehren, von Tierklasse zu Tierklasse, in verschiedener Anordnung, aber gleichen Ursprungs? Was bedeutet dieser Bau für das animalische Empfinden, den Schmerz und die Todesangst ... von der es einmal bei ihm heißt: „Man sagt zwar es sei nur ein Augenblick, aber der Schmerz hat ein feineres Zeitmaß, er zerlegt eine Tertie.“ Und schließlich: Was ist der Körper, denkt man ihn vom Nerv her? Was ist Geschichte, denkt man sie vom solcherart objektivierten Körper her? Dies sind die Fragen, zu denen Obduktion ihn geführt haben mag. Und dies sind auch die Fragen, unter denen bis heute sich Einspruch erheben läßt gegen noch jede Art von Gesellschaftsvertrag, von sozialer Reform, Revolution oder Utopie. Von hier aus erhält Büchners vielleicht verzweifeltste Frage erst ihren radikalen Sinn. „Sind wir denn aber nicht in einem ewigen Gewaltzustand?“
Wohlgemerkt, nicht, daß er sich forschend einläßt auf die Naturphilosophie seiner Zeit, macht den Vorgang bedeutsam, sondern daß er dem Nerv das Primat zuspricht, den Körper zur letzten Instanz erklärt. Hier ist ein Dichter, der seine Prinzipien der Physiologie abgewinnt wie andere vor ihm der Religion oder der Ethik. Aus der reinen Zootomie befreit er die Einsicht, daß Leben sich selbst genug ist und keinen äußeren oder höheren Zwecken gehorcht.
„Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da.“
Aus dem geöffneten Körper, dem (gewaltsam) erbrochenen Schädel liest er, absurd genug, die Grundsätze für ein mögliches freies Zusammenleben ... sowie ihre immer drohende Negation: das Scheitern von Grund auf und aus den Eingeweiden. Denn Autopsie ist der sicherste Weg zum Verlust des Glaubens oder, wem das nicht ausreicht, zur Befestigung des Unglaubens. Das Zerlegen der Körper ist der Königsweg zum Absurden genauso wie zur äußeren pragmatischen Demut. Wo sonst als im Innern der sterblichen Körper wäre die Gleichheit unmittelbarer mit Händen zu greifen, der gemeinsame Grundriß? Und folgt nicht aus solcher Eingeweideschau zuletzt auch etwas so Unerhörtes und Schlüssiges wie die Erfindung, die Proklamation universeller Menschenrechte? Büchner, der Arztsohn, hat die Gesellschaft von dorther zu korrigieren versucht. Vielleicht ist seine politische Leidenschaft ja nichts als ein wiederbelebter Fatalismus gewesen, eine Selbstermunterung, vergleichbar den Experimenten Galvanis, der die herausgerissenen Froschschenkel mit Stromstößen traktierte. Seine große Frage, ob unsere Sinne zu grob oder fein genug sind, bleibt offen. An ihr entscheidet sich, ob in der Schöpfung nur die Webfehler sichtbar werden oder auch die organischen Schönheiten ... ob es ein freies Eigenleben inmitten der anderen gibt oder nur undurchschaubares Begehren, Gewalt und Einsamkeit unter dicker Haut. Francis Bacon kam, ein Jahrhundert später, mit anderen Augen zur selben Einsicht. Im Gespräch hat er, der Maler, sie flüchtig zusammengefaßt, in einem Satz wie von Büchner. „Im tiefsten Grunde ist man seiner Natur nach ohne Hoffnung, und doch besteht das Nervensystem wohl aus optimistischem Zeug.“
Georg Büchner hat dieses Zeug untersucht, immer wieder hat er das nervliche Innenfutter gewendet und im gesprochenen Wort, im gefrorenen Schockmoment aufblitzen lassen. Die neuen dramatischen Antriebskräfte erscheinen im Licht medizinischer Mikroskopie, es sind Erkundungsgänge ins Vegetative, Fallstudien am lebenden Objekt und en détail. Unter der Schrift arbeitet der Nerv, hinter dem Mienenspiel walten die Affekte, und nur dort, im Körper der umhergestoßenen, andere umherstoßenden Protagonisten, lassen sich die Antriebskräfte lokalisieren, nach denen Geschichte und Geschichten plausibel erscheinen. Büchner hat die Risse, die durch den einzelnen gingen, früh und keineswegs kalt registriert. Er hat dieses lügende, stehlende, mordende Individuum als erster mit diagnostischen Interessen betrachtet, hundert Jahre vor den großen bürgerlichen Katastrophen und lange bevor es bei Kafka, operettenhaft und vergeblich, in Seufzern verabschiedet wurde: „Ergründe die Menschennatur!“
Schon der Primaner hatte dem Vater im Hospital beim Sezieren zugesehen. Mit achtzehn ist er in Gießen Student für vergleichende Anatomie und Psychopathologie, gewöhnt an den täglichen Umgang mit Leichen. Früh reagiert er sich ab in sarkastischen Sprüchen. Im Freundeskreis, brieflich, grüßt er von Kadaver zu Kadaver. Dantons Tod, geschrieben fünfzig Jahre nach der Französischen Revolution, Auswurf der Dokumente, wächst unmittelbar zwischen Zoologiebüchern und anatomischen Atlanten hervor. Es ist der Abschlußbericht einer Krankheit zum Tode. Die originalen Zitate aus den Standardwerken zur Revolution werden wie Transplantate dem eigenen Dramentext einverleibt. An den Geweberändern will das Blut nicht gerinnen. Wie abgehackte Glieder zucken die Phrasen der toten Helden weiter im Bühnenstaub. So entsteht sein an Shakespeare geschulter, medizinisch geprägter, von jugendlicher Vanitas süßer Jargon. Gutzkow bescheinigt ihm ein Autopsie-Bedürfnis, das er aus allem herausliest. Der tätige, sammelnde Ordnungsgeist war auf Grund gelaufen, die Beschleunigung hatte begonnen. Was Goethe den gebührenden Euphemismus nannte, fehlt bei ihm völlig. Die Sprache beschönigt nichts mehr, sie ist genauso zerrissen und nervlich angespannt wie die Lage, aus der sie sich strauchelnd erhebt. Psychomotorik bestimmt nun den Handlungsablauf: Die Schaubude als moralische Anstalt ist geschlossen, eröffnet ist das Theater der Anatomie.
Goethe, der Humanist, mochte noch Knochen sammeln beim Gang übers Schlachtfeld, Material für seine osteologischen Studien. Der Reisebericht zur Campagne in Frankreich verschweigt es geflissentlich. Jahrzehnte später hielt er Schillers Totenschädel in Händen, so enden die humanistischen Träume in Terzinen, bei Betrachtung der Überreste des Freundes, als kannibalischer Abgesang. Büchner hat ihnen zugehört bis in die unfreiwilligen Nebengeräusche, das Kratzen, das aus dem regelmäßigen Versbau drang. Von David, dem Historienmaler, heißt es, er hätte die Zuckungen der Sterbenden studiert, im Interesse des graphischen Realismus. Der Henker Sanson beschreibt in seinem Tagebuch, wie unterwegs zur Guillotine der Karren an einem Café vorbeikommt, in dem der Bürger David auf einer Fensterbank saß und die Verurteilten zeichnete. Büchner hält sich, und nicht nur zum Studienzweck, am einzelnen Nerv fest. Man spürt, wie ein Ruck durch die Metaphern gegangen ist. Ein für allemal sind sie aus ihren künstlichen Halterungen gelöst: Ende der Spiegelfechterei und des Automatengeklingels. Der Riesenarbeit der Idealisierung, die Schiller noch glaubte leisten zu müssen, setzt Büchner seinen anthropologischen Realismus entgegen. Von jetzt an zählt nur noch, was in der Körperwelt abläuft, in jener Welt, die für Saint-Just brachial, das heißt mit den Armen regiert wird, mit Terror und Massenmord. In ihr sieht Büchner die neuen Leiden gehäuft, hinter ihren Gewalten die künftigen Naturgesetze verborgen. Seine Landschaften sind von Anfang an jene Schädelstätten des Geistes, von denen Hegel sprach aus der Vogelperspektive des Philosophen. Noch dort, wo er, gut hegelianisch, das Wort vom Weltgeist aufnimmt, der sich seinen Weg durch die Gesellschaften bahnt, verharrt er zuerst vor den Leichenbergen, die am Wegrand zurückblieben. Keine Demokratie ohne ihre barbarischen Episoden, aus keiner Verfassung mehr wegzudenken sind die zerstückelten Leiber. „Geht einmal Euren Phrasen nach“, sagt Mercier, „bis zu dem Punkt wo sie verkörpert werden.“ Und Danton pflichtet ihm bei: „Man arbeitet heut zu Tag Alles in Menschenfleisch. Das ist der Fluch unserer Zeit. Mein Leib wird jetzt auch verbraucht.“ Daß sie tief einschneiden ins Fleisch, daß sie die Leiber zermalmt am Wegrand zurücklassen, das ist es, was Geschichte und Revolution soweit von jeder Erlösung entfernt. Und deshalb ist jeder Gesellschaftsentwurf wertlos, wenn er nicht auch das Bewußtsein von der Zerbrechlichkeit dieser traurigen Körper einschließt. Mag sein, daß die Utopien mit der Seele gesucht werden, ausgetragen werden sie auf den Knochen zerschundener Körper, bezahlt mit den Biographien derer, die mitgeschleift werden ins jeweils nächste häßliche Paradies. Brecht hat, im Untergang des Egoisten Fatzer, das vorläufige Ende der Entwicklung, kurz bevor die serienmäßige Tötung zur Fabrikreife gelangte, festgehalten: die Reduktion des Körpers aufs bloße Verschleißmaterial. Im Ersten Weltkrieg, als die Woyzecks millionenfach in den Schützengräben krepierten, schreibt ein Deserteur in Mühlheim an die Wand seine neue Rechnung. Was ist ein Toter? „... 170 Pfund kaltes Fleisch, vier Eimer Wasser, ein Beutel voll Salz.“
Zurück in der Gegenwart, schließe ich schnell und einfach, mit einer letzten Szene. Als ich am Abend des siebten Oktober 1989 in Berlin, am ersten Tag einer Demonstrationswelle, die das andere Deutschland hinwegspülte, aus der ersten Euphorie erwachte, fand ich mich staunend vor einer ungeheuren Maschine wieder. Auf dem Mittelstreifen einer der typischen Kolossalstraßen der Innenstadt (angelegt nach dem Muster postrevolutionärer Stadtplanung wie die Pariser Boulevards oder die Moskauer Prospekte als reine Durchmarschzonen für Militär oder Polizei) stand da, aus dem Nichts aufgetaucht oder aus einem der unterirdischen Fahrzeugbunker, ein russischer Panzer. Sein Geschützturm, bemalt mit den Emblemen der Nationalen Volksarmee, war eingedreht, die Kanone zeigte über die Fahrbahn hinweg in Richtung Alexanderplatz. Ich weiß nicht mehr, war es das Tonnenschwere seiner Erscheinung, war es die (asiatische) Ferne, über die er so leicht zu gebieten schien: plötzlich hatte ich, ein heimkehrender Schlachtenbummler, weit hinter den andern zurückgeblieben, den Wunsch, mich niederzulassen dort im Schatten des Panzers, an seine stählernen Ketten und Räder gelehnt, minutenlang mit geschlossenen Augen. Das drohende Fahrzeug, die Maschine der Bürgerkriege, hatte ein uraltes Schlafbedürfnis in mir geweckt. Bis hierher war der Körper gekommen, nun suchte er Ruhe, eine Pause im Fortgang. Er hatte genug von alldem, genug von den Straßen breit wie Landebahnen, von Friedensplätzen und Todesstreifen, genug von Morgenappell und windschiefen Plattenbauten, von Sicherheitswahn und urbaner Monotonie, genug der konditionierten Regungen und der einfältigen Sprachen, endlich genug dieser langen sozialistischen Dämmerung, der Lethargie einer ganzen Landschaft, in die er durch Zufall hineingeraten war wie in eine riesige Falle. Ausruhen wollte er, abschalten von Ost und West, von der unseligen Verklammerung des Gespaltenen aller Verhältnisse und Gehirne, sich schlafen legen inmitten des Minenfelds, vergessen die Ohnmacht, die physiologische Diktatur und die jahrelange kollektive Erniedrigung ... einschlafen um die Beleidigungen des Intellekts zu vergessen, einen Augenblick Frieden finden, angelehnt an dieses schwere Kettenfahrzeug, das dort wie unbemannt dastand. Es war der Körper, der sich hier, vor allen Worten, wie in der Anwandlung des Kleinkinds, seiner Erschöpfung hingeben wollte: etwas, das länger ausgeharrt hatte, beklemmender eingezwängt als die immerfort fluchtbereiten Gedanken. Es war, als hätte ich, im Rücken den Panzer, dieses eine Mal die Geschichte verschlafen wollen, minutenlang, bevor alles in Fahrt kam, den Körper vergessend in einem traumlosen Schlaf.
Ich danke der Darmstädter Akademie für einen Preis, dem ich schwer widersprechen konnte und den ich doch (soviel liegt noch vor mir) lieber in anderen Händen wüßte, verliehen für ein ganzes, ein Lebenswerk. Büchners Sterbealter kann mir kaum Trost sein und noch viel weniger Alibi. An ihn denkend, sehe ich keinen meiner sonstigen Ahnen, ich sehe die einzigartige meteorhafte Erscheinung: den Jüngling, den Dichter als Sphinx.
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