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Die sanfte Stimme des Präsidenten „Tidid“

Haiti im friedlichen Übergang, ein Jahr nach der Rückkehr der gewählten Regierung Aristide  ■ Aus Port-au-Prince Jens Holst

Diesen Tag wird Paul nicht so schnell vergessen. Vor einem Jahr hätte er nicht im Traum daran gedacht, daß ihn der Präsident persönlich einladen würde. Paul ist Sprecher einer Selbsthilfegruppe aus dem Slum Cité Soleil. Heute soll er an einer Diskussion mit Jean-Bertrand Aristide über die geplante Privatisierung von Staatsbetrieben teilnehmen. Für Paul Grund genug, das Beste aus seinem Kleiderschrank herauszusuchen. Nach der Kontrolle durch die Palastwache und die US-Sicherheitsberater sitzt er mit erwartungsvoller Miene im gekühlten Raum.

Wie alle anderen begrüßt Paul den Präsidenten mit begeistertem Applaus – doch danach geht es zur Sache. Die Gewerkschafter verteufeln die Privatisierung als Arbeitsplatzkiller, die BasisvertreterInnen wettern gegen die befürchteten Teuerungen. Aufmerksam hört sich Aristide die Bedenken an. Nur einmal, als die Debatte in Tumult auszuarten droht, greift er ein. Seine ruhige, fast sanfte Stimme steht in auffälligem Kontrast zu den hitzigen Beiträgen: „Wir wollen hier die Demokratie aufbauen. Jeder hat das Recht, seine Meinung zu sagen und gehört zu werden.“

Nicht alle hören das gern im Haiti von heute. „Der Haß der Bourgeoisie auf Aristide wächst, weil er den ,Mob‘ in das Zentrum der Macht läßt, das bisher ihr vorbehalten war“, erklärt Edwige Balutanski vom unabhängigen Medieninstitut Info-Services. „Gleichzeitig vermittelt er den Menschen ein neues Selbstwertgefühl: Sie fangen an, sich als Personen zu sehen und ihre Interessen zu vertreten.“

Das ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit in der ehemaligen französischen Kolonie. Zwar wurde Haiti 1804 nach einem Aufstand schwarzer Sklaven die zweite freie Republik in Lateinamerika. Doch es folgte eine 180jährige Gewaltherrschaft, bis 1986 der gefürchtete Diktator „Baby Doc“ Duvalier verjagt wurde. 1990 gewann Aristide die Präsidentschaftswahlen, doch schon nach sieben Monaten vertrieben ihn putschende Militärs ins Exil nach Washington. So wie früher Duvaliers Tontons Macoutes durchkämmten nun die gefürchteten „Attachés“ von General Cédras nachts die Slums, terrorisierten die Bevölkerung und ließen die Toten zur Abschreckung zurück. „Bei unserer ersten Mission 1993 stießen wir in Cité Soleil praktisch jeden Morgen auf Leichen“, erinnert sich ein deutscher Mitarbeiter der zivilen UN-Mission. „Manche wurden tagelang nicht weggeräumt, weil sich niemand zuständig erklärte.“

Seit der Besetzung Haitis durch US-Truppen und der Rückkehr des gewählten Präsidenten können die Menschen in den haitianischen Slums wieder beruhigt schlafen. Mehr als die kleine zivile Beobachtermission von OAS und UNO sorgen dafür 6.000 UN-Soldaten, welche die US-Armee im März dieses Jahres ablösten, sowie 1.000 internationale Polizisten. Die vorwiegend kanadischen und französischen Berater der Police Civile unterstützen die einheimischen Ordnungshüter und helfen beim Aufbau der Police Nationale.

1.750 junge Haitianer versehen mittlerweile ihren Dienst in der blauen Uniform der Nationalpolizei. Schrittweise ersetzen sie die grünuniformierte Interimspolizei, die überwiegend aus ehemaligen Soldaten zusammengesetzt ist. Jeden Monat kommen 350 neue Polizisten hinzu. Ihr Verhältnis zur Bevölkerung ist nicht durch Verbindungen zu den Repressionsorganen früherer Jahre getrübt. „Die Leute haben heute keine Angst mehr vor der Polizei“, erklärt Reynald bei einem Rundgang durch Cité Soleil. Zwei blauuniformierte Nationalpolizisten holpern mit ihren Fahrrädern gemütlich über den gepflasterten Weg. Kurz bevor sie zum Dienstantritt in der neugebauten Polizeistation verschwinden, genehmigen sie sich im Gedränge der Straßenverkäufer noch eine Erfrischung. Von Angst oder Ablehnung ist bei den Umstehenden nichts zu bemerken.

Neben der internationalen Truppenpräsenz, die zunächst bis zum 29.Februar nächsten Jahres beschränkt ist, ist der friedliche Übergang besonders Präsident Aristide zu verdanken. Ein Jahr nach seiner Rückkehr genießt er das ungetrübte Vertrauen seiner Landsleute. Vor wenigen Wochen, am 11.September, konnten selbst tropische Regengüsse und ein spürbarer Temperatursturz die Begeisterung der Menschen für ihren Präsidenten nicht abkühlen. Zu Hunderten drängelten sie sich in der Kirchenruine von Jean Bosco, der ehemaligen Wirkungsstätte des Priesters Jean-Bertrand Aristide am Rande von Cité Soleil. Vor genau acht Jahren stürmten Tontons Macoutes während eines Gottesdienstes die Jean-Bosco- Kirche. Fünf Menschen starben bei dem Überfall, die Kirche brannte bis auf die Grundmauern nieder. Wie durch ein Wunder entging der heutige Präsident dem Mordanschlag. Das gab seinem Ruf als auserwählter Führer des haitianischen Volkes erheblichen Auftrieb. Für die Armen des Landes gilt er als Messias, der ihnen eine bessere Zukunft verspricht.

Aber auch UnternehmerInnen setzen auf Aristide. So wie Prsidendor Charit, der mehrere Ländereien an der Nordküste und Kaffeeplantagen im Landesinneren besitzt: „Ich unterstütze Lavalas, weil Aristide der einzige ist, der Haiti aus der Misere führen kann, der einzige, der genug Grips dafür hat!“ Früher war er in der Kirche aktiv, Politik interessierte ihn nicht. Vor einem Jahr hat sich das geändert. Charit unterstützt seither die Organisation Politique Lavalas (OPL). Im Vertrauen auf die politische Stabilisierung bringt er gerade seine Kaffeefabrik auf Vordermann, die während des Embargos verfallen ist.

Die dreijährige Diktatur und das damit verbundene Wirtschaftsembargo haben das Armenhaus der Karibik endgültig ruiniert. Ausländische Unternehmen zogen in andere Billiglohnländer ab, die Exporte gingen in die Knie und das Nationaleinkommen sank um ein Drittel. Die Not auf dem Lande treibt die Menschen in die Slums der Hauptstadt Port-au-Prince. Hier türmt sich der Müll in Kanälen und auf Nebenstraßen. Der Regen spült die Abwässer aus höher gelegenen Stadtvierteln herunter, die sich als stinkende Brühe in Richtung Meer wälzen. Menschentrauben drängen sich auf buntgestrichenen Pritschenwagen, die den Nahverkehr bewältigen. MP- bewehrte Rambos, Jesusbilder und fromme Sprüche schmücken in trauter Einheit diese tap-taps, auf denen die Bewohner der Slums von Schlaglöchern durchgerüttelt werden. Der Verkehr staut sich auf den wenigen Straßen der Hauptstadt. In dunklen Abgaswolken hocken ärmlich gekleidete Menschen auf Bürgersteigen und Straßen. Frauen verkaufen Obst und Gemüse oder schöpfen Essen aus überdimensionalen Kochtöpfen. Mit einfachen Hämmern bauen Männer aller Altersstufen Möbel aus recycelten Stahlstangen, vulkanisieren Autoreifen oder reparieren Haushaltsgeräte.

Aber es geht voran: Mit fünf Millionen Mark aus dem deutschen Katastrophentopf, pünktlich zur Rückkehr von Aristide gezahlt, werden die Müllberge bekämpft, den von Schlaglöchern übersähten Straßen rücken Asphaltmaschinen zu Leibe. Die neue Stadtverwaltung von Port-au-Prince läßt Häuser abreißen, die während der Diktatur auf Abwasserkanälen gebaut wurden. Mit Unterstützung von Unicef läuft eine landesweite Impfkampagne. Deren Erfolge bestätigt eine Kinderärztin im größten Krankenhaus: „Wir hatten schon seit Monaten keinen Patienten mit Kinderlähmung mehr, und Hirnhautentzündung sehen wir auch seltener als früher.“ Dennoch sind die Krankensäle mit PatientInnen überfüllt. Durchfallerkrankungen, Bronchitis und Hirnhautentzündung befallen mit Vorliebe unterernährte Menschen, zur Zeit grassieren wieder Malaria und Dengue-Fieber.

Dem kleinen Inselstaat stehen für 1995 und 96 insgesamt 1,1 Milliarden Dollar an internationaler Finanzhilfe für Infrastrukturmaßnahmen zur Verfügung. Damit werden zwar die Rahmenbedingungen verbessert, das Geld für die Ankurbelung der haitianischen Wirtschaft muß aber woanders herkommen. Ein Jahr nach der Rückkehr von Präsident Aristide sucht seine Regierung allerorten nach geeigneten PartnerInnen. Die geplante Privatisierung staatlicher Betriebe soll das Kapital für dringende Investitionen liefern. Doch zunächst wirbelt sie erheblichen Staub auf. Pünktlich zum Jahrestag der Rückkehr Aristides forderten die Auseinandersetzungen über den zukünftigen Wirtschaftskurs ihr erstes prominentes Opfer. Premierminister Smarck Michel trat zurück, weil seine Politik im neu gewählten Parlament, das sich am 16.Oktober konstituierte, keine Unterstützung fand.

Neben der Privatisierung von Staatsbetrieben hatte sich die damalige Exilregierung schon im August 1994 in Paris zur pünktlichen Schuldendienstleistung, zu weitgehenden Freiheiten für Auslandsinvestitionen und zu Einschnitten bei den Sozialleistungen verpflichtet. KritikerInnen unterstellen der haitianischen Regierung, sie habe sich von den USA und den internationalen GeldgeberInnen über den Tisch ziehen lassen. Auch Aristide konnte die Wogen nicht völlig glätten, davon zeugten zahlreiche Demonstrationen in den vergangenen Wochen.

Aber vielleicht war das letztlich gar nicht seine Absicht: Sichtbarer Widerstand bietet dem Präsidenten die Chance, mit den GeldgeberInnen nachzuverhandeln. „Wenn die Privatisierungen die Stabilität in Haiti gefährden“, erklärt Gérard Pierre-Charles, der intellektuelle Kopf der OPL, „kann Aristide das gegenüber dem Ausland in die Waagschale werfen.“

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