Zwickel räumt mit Illusionen auf

■ Der IG-Metall-Chef bietet Lohnverzicht und flexible Arbeitszeit gegen Arbeitsplatzschutz und -ausbau

Berlin (dpa/rtr) – Mit 92,4 Prozent wurde Klaus Zwickel am Dienstag abend vom Gewerkschaftstag der IG Metall erneut zum Vorsitzenden wiedergewählt. Schon am Morgen darauf nutzte er diese breite Unterstützung, um seine Wählerschaft mit einigen unangenehmen Wahrheiten zu konfrontieren: Für die nächste Tarifrunde 1997 will die größte deutsche Gewerkschaft nur einen Inflationsausgleich und damit praktisch eine Nullrunde für die 3,5 Millionen Metaller akzeptieren. Außerdem soll es erstmals Einstiegslöhne für Langzeitarbeitslose unter Tarif geben. Dieses spektakuläre Angebot will Zwickel in ein „Bündnis für Arbeit“ einbringen, das er mit der Bundesregierung und den Arbeitgebern schließen will. Als Gegenleistung erwartet der IG-Metall-Boß eine verbindliche Zusage, neue Jobs zu schaffen und den Sozialabbau zu stoppen.

Im einzelnen verlangt er von den Arbeitgebern die Zusage, daß sie in den nächsten drei Jahren auf betriebsbedingte Kündigungen verzichten, 300.000 zusätzliche Arbeitsplätze schaffen und außerdem 30.000 Langzeitarbeitslose einstellen sowie die Zahl der Ausbildungsplätze um jährlich fünf Prozent steigern.

Gleichzeitig müsse sich die Bundesregierung verbindlich bereit erklären, auf die Kürzung des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe zu verzichten und eine Regelung zur Verbesserung des Ausbildungsplatzangebots vorzulegen.

Im Gegenzug fordert er von den 649 Delegierten eine Reform der Flächentarifverträge, um konkrete Lösungen nach Branchen, Betriebsgrößen und Abteilungen zu ermöglichen. Denn zwischen den Flächentarifverträgen und der betrieblichen Wirklichkeit klaffe eine große Lücke. In seiner Grundsatzrede setzte sich Zwickel dafür ein, „alle Möglichkeiten der Flexibilisierung“ der Arbeitszeit auszuschöpfen. Um mehr „Zeitsouveränität“ in den Betrieben zu erreichen, sollten Arbeitszeitkonten in den Betrieben eingerichtet werden. Damit kann die Arbeitszeit stärker den schwankenden Produktivitätserfordernissen angepaßt werden. Die bisherige Praxis führe dazu, daß die tarifvertraglich vereinbarte Arbeitszeit von den Unternehmen immer häufiger unterlaufen wird. Rein rechnerisch arbeitet inzwischen jeder Beschäftigte in der Metallindustrie im Durchschnitt jährlich zwei Wochen mehr als vereinbart.

Mit seinem Vorstoß erteilte Zwickel den Traditionalisten in der Gewerkschaft eine klare Absage. Diese hatten als nächstes Etappenziel die Dreißigstundenwoche bei vollem Lohnausgleich angepeilt. Dem hielt der Vorsitzende entgegen, zunächst müsse die Fünfunddreißigstundenwoche auch in Ostdeutschland durchgesetzt werden. Dort wird die Wochenarbeitszeit erst im nächsten Jahr auf 38 Stunden reduziert.

Ein „Bündnis für Arbeit“-Partner in spe wertete Zwickels Angebot als „bemerkenswert mutige Rede“ und positiven Ansatz zu einer sachlichen Diskussion. Das Vorstandsmitglied des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Roland Fischer, begrüßte die Bereitschaft der IG Metall, für 1997 nur einen Inflationsausgleich zu verlangen und nun endlich mit der Diskussion um eine Flexibilisierung der erstarrten Tarifverträge zu beginnen. Wenn es gelinge, in einen echten Dialog einzusteigen und bessere Rahmenbedingungen für die Unternehmen zu erzielen, könnten Arbeitsplätze erhalten oder bei verbesserter Wettbewerbslage gar geschaffen werden.

Zur Zukunft der Gewerkschaften eröffnete Zwickel den Delegierten, er könne sich vorstellen, daß es in Deutschland nur noch drei Industriegewerkschaften und je eine Dienstleistungsgewerkschaft für den privaten und den öffentlichen Sektor gebe, die beiden letzteren jeweils unter Einschluß der heutigen Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG). Seite 10