: „Er ist kein Naivling“
Eine Mutter sucht seit einem Vierteljahr nach ihrem verschwundenen Sohn. Einen ersichtlichen Grund für sein Verschwinden gibt es nicht ■ Von Plutonia Plarre
Die Redaktion der Interim veröffentlichte kürzlich eine für die Autonomen-Zeitschrift sehr ungewöhnliche Anzeige. Den Hilferuf einer Mutter, die seit dem 17. Juli ihren 13jährigen Sohn Till vermißt: „Wir vermuten, daß er sich in Autonomen-, Antifa- oder Punkkreisen aufhält. Es könnte aber genauso gut sein, daß er tot ist. Ungewißheit ist unerträglich, deshalb meldet euch auf jeden Fall, wenn ihr Till gesehen habt oder wißt, wie es ihm geht. Mögliche Aufenthaltsorte wären Berlin, Bielefeld, Köln oder Amsterdam.“
Der Tag, an dem Till verschwand, war ein Montag. Das letzte, was seine Mutter von ihm weiß, ist, daß er seinen Freund Mark am Nachmittag zum Bahnhof Zoo gebracht hat. Der aus Bielefeld kommende Mark fuhr nach einer Woche Berlinbesuch wieder heim. Till rauchte noch eine Zigarette. Dann ging er, noch bevor der Zug abfuhr. Seither fehlt von ihm jede Spur.
Jedes Jahr werden in Berlin über tausend Kinder vermißt gemeldet. 95 Prozent tauchen aber spätestens nach drei Tagen wieder auf. Die, die länger wegbleiben, sind meist erfahrene Trebegänger. Till K. gehört zu den wenigen Kindern, die schon lange ohne triftigen Grund von zu Hause weg sind (siehe Kasten).
Till ist 1.64 Meter groß, hat blaue Augen, eine strichförmige Narbe zwischen den Brauen und einen kleinen Leberfleck unter der linken Wimper. Früher war er stark „angepunkt“, trug eine Stecknadel in der Nase, färbte seine braunen, krausen Haare mal grün, mal blau. Trug sie mal kurz, mal lang, mal im Irokesenschnitt. Aber solche Anwandlungen hatte er nach Angaben seiner Mutter schon hinter sich, als er verschwand. „Zum Schluß wirkte er eigentlich ziemlich unauffällig.“ Auch was seine Freunde angeht, scheint Till seiner Zeit immer ein Stück voraus. Mit Gleichaltrigen hat er kaum Freundschaften geschlossen, seine besten Freunde sind alle ein paar Jahre älter wie er selbst. Mit älteren Mädchen hatte er schon sexuellen Kontakt. „Er ist überhaupt kein Prügeltyp und wirkt auf Frauen wie Männer gleichermaßen.“
Die Schule ist ihm der absolute Greuel, die Versetzung in die 7. Klasse Gesamtschule schaffte er vor den Sommerferien nur mit Ach und Krach. Außer, daß er sich schon seit längerer Zeit in einer Antifa-Gruppe engagiert, hat er kaum Interessen. Sport, bei dem man sich anstrengen muß, ist ihm zuwider, nur Schwimmen geht er gern. Zu Hause spielt er manchmal E-Gitarre – „er wäre lieber jetzt als später ein Rockstar“ – und bastelt kleine Blinklichtanlagen. Computer und Bücher interessieren ihn nur wenig und vor der Glotze sitzt er nur, wenn er Langeweile hat. Seine Freunde kommen gern und häufig zu Till nach Hause, oft trifft man sich aber auch auswärts in einer Jugendeinrichtung.
Till und seine 35jährige Mutter Claudia K., eine Schlosserin, wohnen in einer Hausgemeinschaft im Bezirk Mitte. Vor dreieinhalb Jahren war die alleinerziehende Frau mit ihrem Sprößling von Bielefeld nach Berlin umgezogen. In dem Haus in Mitte wohnt auch der neue Lebensgefährte von Claudia K., der für Till so etwas wie ein Freund geworden ist. Zu seinem Vater in Bielefeld hatte Till nie richtigen Kontakt.
Die sportlich wirkende Frau mit den strubbeligen, kurzen Haaren ist genau so groß wie Till. „Wir sind oft Arm in Arm durch die Straßen gelaufen. Wir haben ein enges, zärtliches Vertrauensverhältnis“, sagt sie, mühsam die aufsteigenden Tränen unterdrückend. Vor einem halben Jahr bekam Claudia K. ein zweites Kind. Es war kein Unfall, sondern das Ergebnis langer Diskussionen mit ihrem Freund und Till. Der Mann wollte zunächst nicht so recht, aber Till war von Anfang an dafür. „Und als es dann auch noch ein Junge geworden ist, war er total begeistert. Dem bringe ich eine gehörige Portion Dinge bei, hat er gesagt.“
Claudia K. läßt bei der Suche nach ihrem Sohn nichts unversucht. Als Till am 18. Juli immer noch nicht wieder aufgetaucht ist, gibt sie bei der Polizei eine Vermißtenanzeige auf. Seither sind in der Berliner Presse und überregionalen Zeitungen mehrere Suchmeldungen erschienen. Die Reaktion waren ein paar Hinweise, die sich aber schnell als falsch herausstellten. Die 35jährige geht selbst dem vagesten Gerücht nach.
Die Trebereinrichtungen, Punkertreffs und besetzten Häuser in Berlin hat sie schon lange abgeklappert und dabei viele mißtrauische Fragen der Bewohner über sich ergehen lassen. Auch auf dem Strich am Bahnhof Zoo hat sie gesucht, obwohl sie Till ein Stricherdasein eigentlich nicht zutraut. „Er ist kein Naivling. Er wüßte was anderes, wenn er Kohle braucht.“
In diversen Obdachlosen-, Treberzeitungen und Schwulenblättchen hat die verzweifelte Mutter Suchmeldungen geschaltet. In Amsterdam wird demnächst ein Flugblatt mit Tills Bild erscheinen, weil er an der holländischen Grenze gesehen worden sein soll. Vor zwei Wochen machte sich Claudia K. aufgrund eines vagen Hinweises nach Dresden auf, und sprach dort in einer Trebereinrichtung vor – vergebens.
Wie oft sie bei der Suche nach Gründen die letzten Tage und Wochen mit Till in ihrem Geiste Revue passieren ließ, vermag die Frau nicht zu sagen. „Till war ein bißchen enttäuscht, weil eine Reise nach Hamburg kurzfristig gescheitert ist, aber das kann nicht der Grund sein. Er hatte eine tolle Woche mit seinem Freund Mark hinter sich. Er hat ihm ganz stolz die Stadt gezeigt, vom Fernsehturm bis zur Graffitiszene.“ Das letzte Bild, daß sie von Till vor Augen hat, bevor dieser mit seinem 17jährigen Freund Mark zum Bahnhof entschwand, ist das eines fröhlichen Jungen. Immer wieder fragt sich Claudia K., ob Till vielleicht die durch die Geburt des zweiten Kindes bedingten veränderten Lebensverhältnisse gestunken haben. „Seit der Kleine da ist, habe ich einfach nicht mehr soviel Zeit für Till gehabt. Wir haben nur noch miteinander geredet und kaum noch etwas zusammen unternommen.“ „Gesprayt“ hat die Mutter mit ihrem Sohn nie. „Darauf hatte ich keine Lust, aber das erste Mal plakatiert hat er mit mir.“
Selbst, wenn Till abgehauen sein sollte, weil er sich wegen des Kleinen zu Hause überflüssig fühlte, will Claudia K. eines nicht in den Kopf: „Warum er sich nicht einmal irgendwie gemeldet hat, er nicht das kleinste Lebenszeichen von sich gibt.“
Eigentlich kann und will sie es nicht wahrhaben, daß Till etwas zugestoßen ist. Wenn sie weiter über das hartnäckige Schweigen ihres Sohnes nachgrübelt, erfaßt sie die kalte Angst.
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