Der Freiheitsheld mit Napoleonkomplex

■ Die Symbolfigur Walesa hat sich abgenutzt. Nach fünf Jahren Amtszeit befürchten die „intellektuellen Eierköpfe“ Polens, daß er wieder Präsident wird

„Walesa der Große“ titelten einmal die Tageszeitungen in aller Welt. Über zehn Millionen Menschen hatte der Arbeiterführer Polens hinter sich scharen können. Der Freiheitsheld von 1980 saß im Gefängnis, streikte, saß wieder im Gefängnis und schließlich am Verhandlungstisch. Was niemand erwartet hatte, trat ein: Die Kommunisten dankten ab. Die Intellektuellen, die der einfache Elektriker aus Danzig zu seinen Beratern gemacht hatte, zogen als „Mannschaft Walesas“ ins Parlament ein. Der Weg zur Demokratie war frei. Doch Walesa war nicht bereit, wie es ihm seine Berater nahelegten, politisch ins zweite Glied zurückzutreten. Im Gegenteil: In Geheimverhandlungen mit General Jaruzelski erkämpfte er für seinen Freund Tadeusz Mazowiecki die Aufgabe der Regierungsbildung. Die Überraschung war perfekt und wurde im nachhinein von allen gebilligt.

Dennoch blieben die Intellektuellen bei ihrem Votum gegen Walesa. Der Solidarność-Mann sollte als Symbolfigur in die Geschichte eingehen. Doch Walesa dachte gar nicht daran. Er bewarb sich um das höchste Amt im Staat und brüskierte damit seine alten Mitarbeiter und Freunde.

Adam Michnik, die Galionsfigur des intellektuellen Widerstands, startete in seiner einflußreichen Tageszeitung Gazeta Wyborcza eine Anti-Walesa-Kampagne. Mazowiecki aber, der von Michnik unterstützte katholische Journalist, wurde von Stanislaw Tyminski, einem dubiosen Geschäftsmann aus Kanada, ausgebootet. Panik kam bei den Intellektuellen auf. Dann schon lieber Walesa, hieß die Parole. Mit über 70 Prozent Zustimmung der Wähler zog Walesa als das „kleinere Übel“ 1990 ins Präsidentenpalais ein. Was dann folgte, war eine Art politischer Amoklauf: Walesa wollte „mit der Axt in der Hand“ für Ordnung sorgen, rief einen „Krieg an der Spitze“ aus und zerschlug die Gewerkschaft Solidaność. „Pluralismus“, das Wort, dessen Aussprache seine Freunde mit ihm geduldig geübt hatten, war für ihn zum Programm geworden. Seine ehemaligen Mitstreiter, denen eine Umgestaltung der Gewerkschaft in eine Einheitspartei vorgeschwebt hatte, verhöhnte er als „intellektuelle Eierköpfe“. In haarsträubenden Interviews verletzte er sämtliche Regeln der diplomatischen Verhandlungskunst. Die Wut auf Walesa stieg. Der Nobelpreisträger, so hieß es immer öfter in der Presse, gefährde die polnische Demokratie. Der kleine Mann lebe auf Kosten der Nation einen Napoleonkomplex aus. Als Walesa, der sich einige Monate die Regierungspolitik des unfähigen Ministerpräsidenten Waldemar Pawlak – der fünfte in fünf Jahren – angesehen hatte, mit der Parlamentsauflösung drohte, sahen die Intellektuellen das Land im Chaos versinken. Doch es passierte gar nichts. Pawlak mußte nach einem Mißtrauensvotum seinen Hut nehmen. Eine neue Regierung unter Jozef Oleksy wurde gebildet. Der Reformprozeß ging weiter.

Das Problem der polnischen Intellektuellen besteht in ihrem permanenten und geradezu grandiosem Scheitern gegenüber einem Gegner wie Walesa. Trotz Aufbietung all ihrer Geisteskräfte können sie den Gedankengängen des Elektrikers aus Danzig nicht folgen. Sie verstehen seine Strategien und Taktiken nicht. Er bleibt für sie, wie Michnik 1990 schrieb, „unberechenbar, unverantwortlich, unbelehrbar und inkompetent“. Nur so ist das Paradox zu erklären, daß sie den Wunschgegner Walesas für die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen unterstützen. Aleksander Kwasniewski, der Kandidat der regierenden postkommunistischen Partei, wird – so sagen es alle Prognosen voraus – bei einer Stichwahl mit Walesa verlieren. Statt sich nun aber auf einen gemeinsamen Kandidaten der Mitte zu einigen, der Walesa gefährlich werden könnte, schicken die Parteien, die aus der Solidarność-Bewegung hervorgegangen sind, alle eigene KandidatInnen ins Rennen. Kwasniewski aber ist Favorit für den ersten Wahlgang.