piwik no script img

Der Geist aus der Plattenkiste

Der Discjockey als Vollender der Avantgarde: Ulf Poschardts Studie über „DJ Culture“  ■ Von Thomas Groß

Doktorarbeiten schaffen es in aller Regel nicht in die Charts. Wenn ein Buch, das aus einer Dissertation hervorgegangen ist, termingerecht zum Erscheinungstag eine große Besprechung im Spiegel bekommt, fast zeitgleich von Jetzt (dem Jugendmagazin der Süddeutschen) gefeatured wird, und obendrein der 2001-Versand, der das Buch exklusiv vertreibt, großformatige Anzeigen in Tageszeitungen schaltet, dann... ja, dann muß etwas geschehen sein, was außerhalb der üblichen Dynamik eines Wissenschaftsdruckwerks liegt. Wer jetzt noch weiß, daß der Autor, um den es geht, freundschaftlich-professionelle Kontakte zu den genannten Redaktionen unterhält, für den Spiegel sogar als Verfasser von Artikeln auftritt, der kann schon auf die Idee kommen, die Aufmerksamkeit habe im innersten Kern wissenschaftsfremde Gründe. Radikaler Verzicht auf Prüfung des Primärmaterials kann die Folge sein: Man will so ein Ding nach all dem nicht auch noch lesen müssen – was in diesem Fall allerdings ein Fehler wäre. Ulf Poschardts „DJ Culture“ ist zu allergrößten Teilen eine sorgfältig gemachte, gut recherchierte und weitgehend floskelfrei geschriebene Geschichte des Plattenauflegens, seiner technischen Voraussetzungen und seiner Helden. Sie beginnt mit der Erfindung des Radios als dem „elektrischen Zündfunken für die Welt des Grammophons“ (McLuhan), um sich in einem Mix aus Faktenerzählung, Zitat und Reflexion den Massenphänomenen der Gegenwart zu nähern: Disco, House, HipHop, Techno – alles Musikformen, die nicht mehr primär mit Musikinstrumenten arbeiten, sondern mit dem Zusammenschluß zweier Reproduktionsmaschinen: Plattenspielern. Die Schaltstelle bildet der DJ, der Mann, der gespeicherte Klangdaten wie ein Archiv benutzt und am Mischpult immer wieder neu zusammensetzt.

Alles Möglichkeiten, die im Medium angelegt sind, von denen die ersten DJs allerdings weit entfernt waren. Als Urszene gilt das Versenden einer Konserve von Händels „Largo“ im Rahmen eines Weihnachsprogramms durch den amerikanischen Ingenieur Reginald A. Fessenden anno 1906. Schon 5 Jahre später gab es in den USA den ersten Fulltime-Discjockey, Elman B. Myers, der in New York City ein 18stündiges Programm zusammenstellte. 1922 dann bereits knapp 600 Großstationen und 1.000 Amateure. Die Gründe dafür sind in diesen Pionierzeiten wenig heroisch: Das Auflegen von Platten im Radio versprach Unabhängigkeit von den großen Orchestern, deren Formschwankungen und Honorarvorstellungen. Geredet wurde wenig, der DJ war nichts weiter als ein diskreter Moderator der Pause zwischen zwei Musikstücken sowie der zugeschalteten Werbung.

Die dreißiger Jahre brachten mit Martin Block und seinem „Make-Believe-Ballroom“ den ersten Star-DJ hervor, doch erst die Nachkriegszeit setzte den Discjockey vom Typus DJ Wolfman oder Alan Freed durch – Liebhaberfiguren und Agitatoren des Pop, die für ihr vorwiegend jugendliches Publikum Ersatzvater, Ersatzfreund, Ersatztherapeut und Ersatzkuppler waren. Freed, dem die „Erfindung“ der Bezeichnung „Rock'n'Roll“ (als Euphemismus für Geschlechtsverkehr) zugeschrieben wird, war zugleich der erste, der seine Moderationen mit (schwarzen) Slangwörtern durchsetzte, die Titel mitheulte, mit Andeutungen arbeitete. Eine Stümmelung und Verdrehung der WASP-Alltagssprache, die mehr mit Sound zu tun hat als mit Sinn. Murray the K, ein weißer Mikrophonhysteriker, perfektionierte dieses Mix-Modell. Erstmals war das afroamerikanisch infizierte Cut-Up-Talking populär geworden, in dem Poschardt eine Station auf der Entwicklung hin zu Rap und HipHop ausmacht.

Bis hierhin ist „DJ Culture“ ein von Friedrich Kittlers „Grammophon, Film, Typewriter“ (Kittler hat auch die Arbeit betreut) inspiriertes Geschichtsbuch, das technologische und biographische Daten sammelt und auf Popkultur bezieht. Erst mit der Entwicklung von Disco, HipHop, dem Mixen zweier Klangquellen durch einen (zunächst) simplen bipolaren Schalter unter Beibehaltung des Groove schält sich aus den historiographischen Beschreibungen die Figur heraus, die Poschardt interessiert: der DJ als Ingenieur im Labor der Klänge. Seit Grandmaster Flash in den Achtzigern einzelne Passagen seiner Platten markierte, um sie unter den Augen des Publikums mit anderen zu kombinieren, ist der DJ eine Art Live- Mixer. Mit seiner Plattenkiste übt er Abend für Abend eine Kulturpraxis aus, die spielerisch und massenhaft verwirklicht, was, so Poschardt, die historischen Avantgarden an Collagetechniken entwickelt haben. Und seit der Sampler (mit seiner Verwandlung von Schallereignissen in Datensätze) die Plattenkiste digitalisiert hat, ist sein Reich derart angewachsen, daß es der Tendenz nach den gesamten Bestand an konservierten Tönen umfaßt. Der DJ ist sozusagen Welttonmonteur – und damit Universalkünstler.

Spätestens hier wird klar, daß Poschardt sehr viel mehr anstrebt als eine handbuchartige Sammlung von Realien zur Geschichte der Plattenaufleg- und Mixkultur. Es geht ihm um nichts Geringeres als den Entwurf einer post-postmodernen Ästhetik, in der der DJ als Supereklektizist die Rolle des revolutionären Avantgardisten spielt. In expliziten Lyrics: „Bei jedem neuen, noch nicht dagewesenen Live-Mix im Club wird das Bewußtsein selbstverständlicher, an der Speerspitze eines neuen Popaufstands zu stehen.“

Mit solchen Wendungen, die sich im letzten Drittel von „DJ Culture“ häufen, tritt aus der Puppe des Sammlers und Historiographen aber auch endlich die Figur heraus, die Poschardt im Grunde am nächsten und liebsten ist: der Diskursgeber und Manifestschreiber – der Doktorand als Propagandist einer neuen Zeit. Als solcher schließt er sich kurz mit der Macht, die die neuen Technologien über Körper ausüben, um aus ihr das Schema einer „rebellenhaften Wiederentdeckung des Begehrens“ herauszulesen. Die „Tyrannei des Beat“ ist Poschardt nicht etwa (wie wohl Kittler) die Anpassung des Körpers an die apparativen Funktionen, wie sie die Ära von Nintendo und Internet erfordert, sondern ein Agent der Foucaultschen Mikropolitik: „Fallen der alte Künstler und das alte Subjekt, fällt irgendwann auch der Staatsapparat“.

Erstaunlich an diesem forcierten Akt der Sinngebung ist nicht nur das vollkommene Ausblenden der vielen Enttäuschungen, die die „Mikropolitik“ als letzte konsensfähige bohemistische Subversionsstrategie in den Achtzigern hat hinnehmen müssen; verblüffend ist vor allem, daß Poschardt hier selbst Momente der sogenannten „großen Erzählung“ (des philosophischen Superentwurfs) auffährt, die er zuvor mit soviel Foucault- und Deleuze-Zitaten als gefährlichen Zugriff diskursiver Macht gegeißelt hat. Ständig ist der Popforscher von dem Gefühl getrieben, „den ganz großen Ideen auf der Spur“ zu sein, ständig steht er unter dem leicht faustischen Zwang, das, was er an populärer Kultur und „Bewegung“ vorfindet, auf das Geschichtsziel revolutionärer Überwindung hin zu denken.

Diese permanente Anstrengung legt nicht nur eine Schicht quasi religiösen Eiferns frei, sie führt Poschardt auch schnurstracks zur Konstruktion höherer Notwendigkeiten. Weil das Subjekt, das ja tatsächlich nichts anderes tut, als Klänge zu recyclen, vor den geschichtlichen Tatsachen im Grunde klein und schwach ist, muß ihm aus der Geschichte ein objektives Echo entgegenschallen, ein Abglanz metaphysischer Vernunft. In diese Position, und das ist nun wirklich schwer zu fassen, rückt ausgerechnet die Hegelsche Geschichtsphilosophie. „Die Morgensonne“ heißt das pathetische Schlußkapitel, in dem Poschardt ein letztes Mal zelebriert, „wie unendlich stark, mächtig und klug diese DJ Culture ist“. Mit anderen Worten: Sound-Engineering als Mix-Version ist der Weltgeist aus der Plattenkiste. Das Hegelsche System mit seiner zielgesteuerten Dialektik ist Poschardt eine Maschine der Zuversicht, mittels deren Mechanik die ravende Generation endlich ausficht, was zuvor bloß machtlos geglaubt wurde: So oder so, die Erde wird rot.

„DJ Culture“ ist ein eigenartig testamentarischer Text. „Ich bin ein Vertreter der weißen, europäischen Mittelschicht, männlich, heterosexuell und links“, umreißt Poschardt seine Position, als ob damit alles gesagt wäre. Dabei fangen die Fragen hier doch erst an: Was ist der tiefere Impuls so eines Buchs? Ist es die Selbstermächtigung als richtungsweisender Poptheoretiker? Hat der Autor die Beschränkungen des Spiegel- und Vogue-Journalismus satt und sich hier mal so richtig ausgetobt? Oder wohnt in diesem „mit dem Herzen“ (Poschardt) geschriebenen Buch tatsächlich die Seele eines Revolutionärs? Im letzteren Fall wird er es mit seiner weiteren Praxis unter Beweis stellen müssen.

Ulf Poschardt: „DJ Culture“. Rogner & Bernhard bei 2001, 425 Seiten, 35 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen