Um Leben und Tod

■ Der Mord an Rabin und das Selbstbild Israels

Israel steht unter Schock. Die Bilder von weinenden Menschen in den Straßen von Tel Aviv zeigen, daß das Entsetzen über den Mord an dem israelischen Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin über die Betroffenheit hinausgeht, die ein solches Attentat in den meisten anderen Ländern ausgelöst hätte. Die Tatsache, daß es weder ein radikaler Palästinenser noch ein von einem arabischen Geheimdienst bezahlter Killer war, der die tödlichen Schüsse abfeuerte, sondern ein junger israelischer Staatsbürger, hat diese tiefgreifende Erschütterung ausgelöst.

Dies verweist auf das Selbstbild Israels, das sich immer noch von dem anderer Staaten unterscheidet – ungeachtet des Friedensprozesses. Die Ermordung des ägyptischen Präsidenten Anwar el- Sadat oder politisch motivierte Morde in westeuropäischen Ländern lösten auch Entsetzen aus, jedoch über die Tat an sich und nicht über die Tatsache, daß es sich bei den Attentätern um Personen handelte, die aus dem gleichen Land wie ihr Opfer stammen.

Das Selbstbild Israels, bestimmt von dem Gedanken „Israel ist das Ghetto“ (Elie Wiesel), wurde seit seiner Gründung vom Kampf um Leben und Tod geprägt, vom Kampf um das Überleben in einer feindlichen Umwelt; umgekehrt wurde der jüdische Staat im Nahen Osten als Fremdkörper wahrgenommen. Daher wird der Mord an Rabin als die ungeheuerliche Verletzung eines Tabus empfunden: daß kein Jude einen anderen tötet, ungeachtet aller politischen Gegensätzlichkeiten.

Spätestens mit den ersten Anfängen der israelisch-palästinensischen Verhandlungen Ende Oktober 1991 in Madrid wurde deutlich, daß Israel sich von diesem Selbstbild verabschieden muß, wenn der Friedensprozeß eine wirkliche Chance haben soll – so, wie auch seine Nachbarstaaten ihren falschverstandenen Ehrbegriff aufgeben müssen, der das Existenzrecht anderer in Frage stellt. Die scharfe innenpolitische Kontroverse, die der Friedensprozeß in Israel ausgelöst hat, kommt angesichts einer Geschichte, die über Jahrzehnte hinweg von Gewalt und Mythen geprägt wurde, nicht überraschend. Sie ist auch Ausdruck für die Reife der politischen Kultur Israels, die sich von der seiner Nachbarstaaten nach wie vor abhebt. Daß dieser politische Streit nun zu der Ermordung Rabins geführt hat, ein Attentat auf einen politischen Führer also, das man eher in einem der Nachbarstaaten oder unter den Palästinensern erwartet hätte, macht die Verunsicherung vieler Israelis komplett – und aus der Verunsicherung einen Schock. Beate Seel