: Der falsche Angeklagte
Der Prozeß gegen den Nazi-Kollaborateur René Bousquet konnte nicht mehr stattfinden – jetzt steht sein Mörder vor Gericht ■ Aus Paris Dorothea Hahn
Der Todesschütze leugnet nichts. Sein Opfer ist für ihn „Abschaum“. Und doch hält er die Tat vom 8.Juni 1993 für den „größten Fehler seines Lebens“. An jenem Tag hat Christian Didier den 84jährigen René Bousquet erschossen, den obersten Nazi-Kollaborateur und ehemaligen Polizeichef des Vichy-Regimes.
Der 51jährige, der seit Montag vor dem Pariser Schwurgericht steht, ist ein schwacher Mensch. Der Friseurssohn hat Dutzende von Anläufen gemacht und dennoch keinen Beruf gelernt. Hat keine stabile Beziehung zu einer Frau aufgebaut. Hat Europa, die USA, Australien bereist und dennoch nirgends ein Zuhause gefunden. Hat x psychiatrische Behandlungen hinter sich und dennoch nie den Weg aus den Depressionen heraus gefunden. Und hat auch mit seiner Literatur – drei Romane, von denen nur einer im Selbstverlag erschienen ist – keinen Erfolg gehabt.
Der Mordprozeß, der bis Ende dieser Woche läuft, ist ein neues Scheitern. Christian Didier hatte Beifall erwartet, von einer kurzen Gefängnisstrafe und einem ruhmreichen Leben danach phantasiert. Wenige Stunden, nachdem er den 84jährigen René Bousquet in dessen Wohnung in einem Pariser Nobelviertel erschossen hatte, bestellte er am 8.Juni 1993 ein paar Journalisten zu einer Pressekonferenz in sein Hotelzimmer. Im rot- weiß gestreiften Hemd und mit Sonnenbrille erklärte er in den Minuten vor seiner Verhaftung, die Justiz hätte ihre Arbeit nicht erledigt. Aus „humanitären Gründen“ und um „dem Göttlichen zurückzugeben, was dem Göttlichen gehört“, habe er Bousquet erschossen.
Zwei Jahre später beschreibt sich Didier vor Gericht kleinlaut als Opfer. Der kleine Mann mit dem kurzgeschorenen silbergrauen Haar, der sich an seinem ersten Prozeßtag einen weißen Schal über das dunkelblaue Jacket geknotet hat, redet ohne Punkt und Komma. Er beklagt den Gedächtnisschwund durch den langen Gefängnisaufenthalt, die schlechte Beziehung zu seinem Vater, die freudlose Kindheit in dem Vogesenort Saint Dié. Immer wieder mahnt ihn der Vorsitzende Richter Yves Jacob, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wenn der Angeklagte mit weit ausholenden Handbewegungen eine neuerliche „profunde Malaise seines Lebens“ ausbreitet, kommen Lacher aus dem Publikum.
Wenn Christian Didier ihn nicht erschossen hätte, säße möglicherweise René Bousquet auf der Anklagebank. Die Voruntersuchungen über seine Verantwortung für die Deportation von 60.000 Juden aus Frankreich standen im Juni 1993 kurz vor dem Abschluß. Er war der höchstrangige lebende Verantworliche des Kollaborateursregimes und wäre der erste Franzose gewesen, gegen den ein Verfahren wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ eröffnet worden wäre. Vor ihm hatte nur der Deutsche SS-Mann Klaus Barbie als „Schlächter von Lyon“ wegen dieses Straftatbestandes vor einem französischen Gericht gestanden.
Von der „Endlösung“ zum Mitterrand-Wahlkampf
Bousquet war nicht nur der französische Polizeichef, der 1942 bis Ende 1943 in enger Zusammenarbeit mit den Nazis – und in weit vorauseilendem Gehorsam – die „Endlösung“ in Frankreich organisierte: Er war auch das Musterbeispiel einer französischen Nachkriegskarriere. Seine Tätigkeit für das Vichy-Regime trug ihm 1949 zwar eine Verurteilung zu fünf Jahren Ehrentzug wegen „nationaler Unwürde“ durch den „Hohen Gerichtshof der Befreiung“ ein. Doch gleichzeitig hob dasselbe Gericht die Strafe wegen Bousquets Diensten für die Résistance wieder auf.
Bousquets Ehre war gerettet, seinem Aufstieg in die Führung der „Banque d'Indochine“, einer der größten Banken des Landes, in die Leitung der südwestfranzösischen Tageszeitung Dépêche du Midi und in die Spitzen der Pariser Gesellschaft stand nichts mehr im Wege. Unter anderem unterstützte er 1965 tatkräftig die erste Präsidentschaftskandidatur von François Mitterrand. Der Sozialistenchef pflegte bis in die späten siebziger Jahre einen engen Kontakt zum einstigen Polizeichef von Vichy.
Die Nachfahren der Deportierten und die wenigen Überlebenden der Deportation prangerten damals längst die Rolle von Bousquet im Holocaust an. Doch die französische Justiz wurde nicht aktiv. Auch nach 1989, als der Anwalt Serge Klarsfeld im Namen der „Vereinigung der Söhne und Töchter der jüdischen Deportierten Frankreichs“ Klage einreichte, kam jahrelang keine Bewegung in die Angelegenheit. Mitterrand persönlich hatte im Kabinett klargemacht, daß er kein Verfahren wünschte. Aus Protest trat sein damaliger Justizminister Pierre Arpaillange zurück.
Christian Didier ist 1944 geboren – dem Jahr, als für Frankreich der Krieg zu Ende war. Sein späteres Opfer hat er nur aus den Medien gekannt. Er selbst ist nicht jüdischer Herkunft. Seine Familie hat keine Opfer des Faschismus zu beklagen. Dennoch spielten sich Christian Didiers erste Jahre im Schatten von Krieg, Okkupation, Kollaboration und Deportation ab.
Die Kinder von Saint Dié erzählten sich von ihren verschleppten Vätern und Cousins. Sie trafen sich auf der „Straße der Füsilierten“, wo wenige Jahre zuvor Nazis und französische Milizionäre ihre Gegner erschossen hatten.
Kindertreffpunkt „Straße der Füsilierten“
Die 77jährige Mutter des Angeklagten, die vor Gericht kaum einen ganzen Satz herausbringt, beginnt erst zu sprechen, als der Vorsitzende Richter die Okkupation erwähnt. „Davon“, sagt sie, „haben wir immer geredet – auch nach dem Krieg. Saint Dié hat doch furchtbar gelitten.“ Und eine über 80jährige einstige Insassin des KZ Mauthausen, die trotz ihres fragilen Gesundheitszustandes zu dem Gericht nach Paris gereist ist, erinnert im Zeugenstand daran, daß der Ort zu 80 Prozent zerstört wurde. Madame Thomas-Mougeotte war als junge Frau mit ihrer gesamten Familie aus Saint Dié deportiert worden. Ihre vier Brüder und ihr Mann kamen nie zurück. Um die enge Zusammenarbeit zwischen Franzosen und Deutschen klarzumachen, erklärt sie, als erstes seien damals französische Polizisten zur Hausdurchsuchung gekommen.
In den Tagen nach dem Bousquet-Mord im Juni 1993 hat die alte Dame in Saint Dié eine Petition zugunsten von Christian Didier verteilt. Vor Gericht erklärt sie: „Bousquet hat 45 Jahre zu lange gelebt.“ Ein Freund des Angeklagten aus Saint Dié nennt die Tat Christian Didiers „eine Hinrichtung“. Den Begriff „Mord“, den ihm der Oberstaatsanwalt Philippe Bilger vorschlägt, findet er „angesichts des Opfers“ unpassend. Eine langjährige Freundin der Familie Didier sagt einfach: „Christian ist wie wir alle. Er hat Fernsehen geguckt und nicht verstanden, warum der Bousquet frei herumläuft.“
Der Gemeinderat des sozialistisch verwalteten Saint Dié verabschiedete am Freitag einen Gnadenappell an die Geschworenen. „Wir lehnen Privatjustiz ab“, heißt es darin, „aber es gibt viele Menschen in Saint Dié, die Verständnis für Christian Didiers Geste haben und die bereit sind, ihn in seiner Heimatstadt aufzunehmen, wenn er die Freiheit wiedererlangt.“
Die beiden Verteidiger versuchen, den Mordprozeß gegen ihren Mandanten zu einer Ersatzveranstaltung für die nunmehr endgültig verhinderte Anklage gegen Bousquet zu machen: Sie stellen die französische Justiz an den Pranger, weil sie getreu dem Auftrag der Regierung das Verfahren gegen den Vichy-Polizeichef immer wieder verschleppte. Zahlreiche Zeugen, die sich seit vielen Jahren auf den ersehnten Bousqet-Prozeß vorbereitet hatten, sind zu diesem Zweck als Zeugen der Verteidigung des Bousquet-Mörders geladen – Überlebende der Deportation, Ex-Minister und der Anwalt Serge Klarsfeld.
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