: „So weit waren wir nicht auseinander“
Sie waren aus Zittau, sie kannten sich seit Jahren, sie waren Oppositionelle. Mit dem Fall der Mauer trennten sich ihre Wege. Ein Gespräch mit Sachsens Ex-Innenminister Heinz Eggert und den Bürgerbewegten Andreas Schönfelder und Thomas Pilz ■ Von Detlef Krell
taz: Wie haben Sie am 9. November 1989 den Fall der Mauer erlebt?
Thomas Pilz: Wir haben in drei Kirchen darüber informiert, wie in Berlin und Dresden mit DemonstrantInnen umgegangen wurde. Anschließend zog ein Schweigemarsch mit etwa 10.000 Leuten durch Zittau. Als wir vor dem SED-Gebäude standen, wurde uns von dort zugerufen: „Ihr könnt nach Hause gehen. Die Mauer ist offen.“ Keiner reagierte darauf.
Als ich es dann im Radio hörte, dachte ich: Das kannst du nicht mehr einordnen. Das gehörte nicht zu dem Programm, für das ich auf der Straße war.
Andreas Schönfelder: Das Wichtigste an diesem Tag war, daß 10.000 Leute gewaltlos das Weiße Haus, die Stasizentrale, eingenommen hatten.
Heinz Eggert: Ich war in Koblenz. Mein Bruder hatte Geburtstag, und da hatte ich einen Grund, rüberzufahren. Abends, in der Kneipe, sagte einer: „Heiner, die Mauer ist gefallen!“ Und dann machten die den Fernseher an. Ich bin nach Hause, und dort habe ich heulend vor dem Fernseher gesessen. Nachts um zwei Uhr hatte ich endlich meine Frau am Telefon und fühlte mich wie eingesperrt, diesmal von der anderen Seite.
Schönfelder: Ich gehörte zu denen, die noch meinten, nun die DDR reformieren zu können. Das war mit dem Fall der Mauer schon so ein Gefühl: Jetzt wird eine andere Entwicklung kommen, nicht die, die sich mit meinen persönlichen Träumen und Hoffnungen verbindet.
Pilz: Was mich richtig glücklich gemacht hat, war die Solidarität und das Gefühl, endlich mit vielen Leuten etwas bewegen zu können.
Eggert: Das war ja zugleich der Irrtum, daß man glaubte, es gebe einen tragfähigen Konsens. Der war nicht da! Ich erinnere mich an die Kundgebung, als ich zum erstenmal für die deutsche Einheit gesprochen hatte ...
Pilz: ...Ich war nach dir dran und habe das Gegenteil gesagt ...
Eggert: ...Ja, und mir war klar, daß wir die Probleme hier nicht aus eigener Kraft bewältigen werden. Die Arbeit in der Unabhängigen Untersuchungskommission hat mir gezeigt, daß wir fünf oder sechs „nützliche Idioten“ waren, die von der Presse hofiert werden, aber da saß noch der Staatsanwalt drin, der Kripo-Chef von der K1, und ich wußte: Wenn wir DDR bleiben, dann werden diese ganzen Leute in neuer Uniform weiter unser Leben bestimmen.
Pilz: Das ist ja richtig, aber ich habe auf dieser Demonstration gesagt: Wir müssen zuerst die Frage nach unserer eigenen Identität stellen, herausbekommen, was wir selber wollen.
Eggert: Das ist legitim; nur gibt uns die Geschichte diese Zeit nie.
Sie verbindet ein Stück gemeinsame politische Biographie in der DDR. Umweltbibliothek Großhennersdorf, Studentengemeinde Zittau, die Hochzeitskirche Oybin, das waren wichtige Adressen für einen kritischen Umgang mit dem System. Wenn Sie zurückblicken auf die vergangenen sechs Jahre: An welcher Vision, an welchen Konzepten haben sich Ihre politischen Wege getrennt?
Eggert: Ich hatte vor euch eine große Achtung, weil ihr auf den Schutz der Kirche immer verzichtet hattet, in ziemlich radikaler Kompromißlosigkeit. Ich habe die Protokolle der Ratsabteilung Kirchenfragen lesen können: Es gab wirklich nicht wahnsinnig viele Leute in der Kirche, die sich im Gespräch mit dem Rat des Kreises für euch erklärt hatten. Da war man sich immer schnell einig, daß ihr die Störer seid eines Dialoges und Verständigungsprozesses zwischen Staat und Kirche.
Schönfelder: Wir haben immer gemerkt, daß du dieser Radikalität gegenüber etwas reserviert warst. Wir wollten schon Revolution! (lacht) Sonst hätte es sich für mich nicht gelohnt, in diesem Land zu bleiben.
Eggert: Und es war eine grundlegende Ehrlichkeit dabei, weil ihr diese Radikalität mit eurer eigenen Existenz abgedeckt hattet. Ich war in Berlin bei so einer Friedenskonferenz, da war ich entsetzt über diese Selbstdarstellungsversuche der Leute. Eine so krude Ideologisierung, nach der Devise: Wer nicht für uns ist, der ist von der Stasi geschickt.
Schönfelder: Bürgerbewegung, die war doch nichts Homogenes. Wir haben versucht, alle linken Strömungen, die es jemals auf dieser Erde gegeben hat, in Gruppen nachzuspielen. Bürgerbewegung, das war ein Mythos, den wir uns selber aufgebaut hatten. Es gab eine Menge bewegter Bürger, die sich trafen, weil sie wogegen waren. Und dann blätterte das alles ab. Das hat nicht nur etwas mit Kohl-Besuchen zu tun.
Wer den für den Tag attraktivsten Slogan herausgeben konnte, der bekam dafür auch die nötigen Unterschriften. Wollt ihr Reformen in der DDR – dafür hat das Neue Forum Unterschriften bekommen. Später gab es Millionen Unterschriften für den, der die D-Mark versprochen hat.
Eggert: Nein, ich denke, das ist ein Irrtum. Ich bin mir sicher, daß die D-Mark auch schon eine Rolle gespielt hat zu Zeiten, als es hieß: „Wir sind das Volk.“ Nur, es war diesen Bürgerbewegten einfach nicht bewußt, wie weit sie sich vom Volk entfernt hatten. In Berlin, das waren doch elitäre Klubs. Die hätten nie eine Diskussion in der Pinte bestanden.
Schönfelder: Ich glaube, ich war damals öfter in Kneipen als du.
Eggert: Gut, ich meine nur, daß diese Kluft immer da war.
Pilz: Man hat sich doch nie darüber unterhalten, wofür man sich eigentlich engagierte. Wir waren uns einig: Dieses System muß weg!
Eggert: Auf so ein epochales Ereignis wie den Mauerfall waren wir nicht vorbereitet. Wir waren uns darüber einig, daß wir diese Opposition zur Veränderung der Lebensverhältnisse in der DDR noch sehr lange vorwärtstreiben müßten. Wenn wir gesagt hätten: „In zehn Jahren kriegen wir das schon hin, freie Wahlen, andere Parteien, die DDR demokratisieren“, da wären wir alle nicht weit auseinander gewesen.
Pilz: Für mich war es nie ein Problem, daß Heinz Eggert in die CDU gegangen ist. Ich hätte nie verstanden, wie deswegen ein Konsens aufgegeben werden könnte. Für mich war immer wichtig, daß man sich verständigen kann.
Als vor etwa einem Jahr unter Sachsens Bündnisgrünen über Sinn oder Unsinn einer schwarz- grünen Koalition debattiert wurde, hatte das einen Hintergrund auch in gemeinsamen politischen Wurzeln von Leuten wie Ihnen, die 1990 eben zur CDU oder zu den Grünen gegangen waren. Das Wahlergebnis ist bekannt. Dennoch die Frage: Wo sehen Sie heute noch Gemeinsames?
Pilz: Das ist eine persönliche Erfahrung. Ich habe dir, Heiner, im Zittauer Kreistag gegenübergesessen. Und ich habe gewußt, wenn wir jetzt gegeneinander abstimmen, dann hat das etwas mit einer pragmatisch anderen Sicht auf das Problem zu tun. Aber man sitzt in diesem Raum, weil man Verantwortung übernehmen, etwas gestalten will. Und das mit ganzer Person und mit größtmöglicher Offenheit. Ich glaube, daß deshalb Leute auf die Idee gekommen sind, von den Grünen und von der CDU, über mögliche „Koalitionen“, ich sage lieber Gestaltung, nachzudenken.
Eggert: Ich glaube, die Verwerfungen in den Parteien hat jeder vor Augen, da sind die Grünen nicht gefeit, die CDU nicht, auch nicht die SPD. Wir sind in der Bundesrepublik auf ein ganz anderes Politikverständnis getroffen. Da unterhält man sich zwar, unter Fraktionsführern, um Entscheidungen vorzubesprechen. Das gilt dann schon als große, demokratische Tat. Aber es passiert selten, daß sich von der Basis Leute zusammensetzen und über gewisse Dinge sprechen, ohne ihren parteipolitischen Anspruch voll geltend zu machen.
An dem Tag, an dem diese ganzen Dinge gegen mich bekannt wurden, habe ich gesagt: „Ich lasse mich beurlauben“ – für mich die einzige Möglichkeit. Die Vorwürfe mußten untersucht, Leute, die mit mir zusammenarbeiteten, befragt werden. Da war für Politikbeobachter im Westen völlig klar: Der hat Dreck am Stecken. Weil man sich im Westen nur beurlauben läßt, um eine Schamfrist zu haben, bis man endgültig geht. Hier sind zwei Auffassungen von Politikgestaltung aufeinandergetroffen, die sich nicht entsprochen haben.
Aufschlußreich an der öffentlichen Darstellung der „Affäre Eggert“ ist doch vor allem eines: die Verwunderung darüber, daß da ein „menschlicher Typ“ von Politiker aufsteigen konnte, und dann die selbstverständliche Gewißheit, daß dieser „Mensch“ ja irgendwann abstürzen mußte. Für allzu Menschliches ist offenbar kein Platz in der politischen Kultur der Bundesrepublik.
Eggert: Ich weiß es nicht. Wenn mir ständig vorgeworfen wird, daß ich Leute duze, und als Hauptfehler, von sehr wohlmeinenden Leuten, daß ich mich „keiner Seilschaft angeschlossen“ habe... Ich habe immer gedacht: Entweder kommt die Persönlichkeit rüber oder nicht. Da macht man auch fachliche Fehler, dazu stehe ich jederzeit. Ich habe als Minister manchmal die Leute beneidet, wenn ich in meiner Kutsche unterwegs war. Die standen an der Bushaltestelle und quatschten. Selbst wenn ich dazugekommen wäre, wären zunächst die Gespräche verstummt: Was will der Eggert hier?
Schönfelder: „Jemand in Zittau hat was verbrochen!“
Eggert: Nein, aber du bist jemand, der nicht normal behandelt wird. Wißt ihr, wie viele Leute mich in Bonn angesprochen haben, auf der Straße: „Herr Eggert, bei uns wimmelt es zwar von Politikern. Aber der einzige, den wir hier mal im Café sehen oder auf der Straße, das sind Sie.“ Journalisten in Dresden haben immer gesagt: „Nimm uns doch mal mit, wenn du abends in die Kneipe gehst.“ Ich habe das abgelehnt, das würde die ganze Atmosphäre verfälschen. Die gleichen Journalisten wußten dann ganz genau: Der ist in die Kneipe gegangen, hat nie einen mitgenommen, da wird schon was faul sein. Ich habe dieses Spiel satt.
Wie haben Sie den Sturz von Heinz Eggert wahrgenommen?
Pilz: Ich weiß noch, wie ich in der „Rosa“ [Zittauer Szenekneipe] mit Jugendlichen gestritten und gesagt habe: Das Thema, um das es hier geht, ist ein ganz anderes, nämlich: Wieviel menschliche Nähe ist in der Politik erlaubt. Wie Medien und Politiker mit dir umgegangen sind, ist ein Ausdruck dafür, wieviel Ehrlichkeit und Offenheit in der Politik zugelassen sind. Ich habe mich nur gewundert, wieso du nicht offensiver mit dieser Geschichte umgegangen bist.
Eggert: Ich wußte doch nicht einmal genau, was die mir vorwerfen. Ich kannte die Protokolle und den Personenkreis nicht, konnte nur vermuten. Sollte ich mich einlassen auf dieses Spiel, alle zwei Tage nach irgendwelchen Veröffentlichungen zu sagen: „Nein, das habe ich nicht gemacht!“ Ich konnte nur eines erklären: „Ich habe nie jemanden belästigt.“ Und hoffen, daß die Logik siegt.
Schönfelder: Wenn einer als Politiker unliebsam wird, wenn er als Minister Töne anschlägt, die er schon lange nicht mehr anschlagen darf, weil das nur „normale Menschen“ dürfen, wird die Schlinge zugezogen. Eine substantielle Auseinandersetzung mit dir als Innenminister hat es nicht gegeben.
Eggert: Dabei sind Bilder aufgebaut worden, dafür ist mir ein Amt zu wertvoll, um es damit zu belasten. Der zweite Punkt ist, daß mich die Sache so verletzt hat; das wirkt bis heute.
Ein anderes Thema: Wie bewerten Sie heute die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit?
Eggert: Diese Aufarbeitung wurde mediengerecht einigen Leuten überlassen. Den Willen zu einer wirklichen Aufarbeitung, die auch schmerzhaft ist, erlebt man kaum. Ich würde mir wünschen, daß man sich mehr den Opfern des DDR-Systems zuwendet und nicht nur die Täter schlagzeilengerecht vermarktet.
Schönfelder: Die juristische Aufarbeitung ist gescheitert. Sie mußte scheitern in einem Rechtsstaat. Das ist nicht die Frage. Es geht um einen Prozeß, in dem wir darüber reden, was in diesen vierzig Jahren war. Und es geht um einen Täter-Opfer-Ausgleich ...
Eggert: ... den es nicht gibt ...
Schönfelder: ...der muß aber auch über solche Gespräche laufen.
Pilz: Ich meine, es ist noch nicht mal diskutiert worden, wie die Aufarbeitung aussehen könnte. Das kann nicht in Parlamenten, sondern nur in, ich sage mal: Klubs passieren, in denen man über das Leben, über Biographien redet. Ich habe mir meine Stasiakte kopiert und im Multikulturellen Zentrum aufgestellt, an meinem Arbeitsplatz. Die habe ich öffentlich gemacht. Ich blättere hin und wieder darin, und dann werde ich richtig fröhlich: Wie Leute ernsthaft so etwas betrieben haben.
Eggert: Damals hätte dich dieser Ernst den Kopf kosten können.
Pilz: Ja, klar. Aber wo ich Aufarbeitung total wichtig finde, ist, wenn heute diese Ost-Leidensmentalität gepflegt wird, wenn wie zu DDR-Zeiten diskutiert wird: „Das, das und das muß gesichert sein“, anstatt darüber nachzudenken, was sie eigentlich wollen.
Eggert: Wenn heute gesagt wird, das Leben sei kälter geworden, dann kann ich nur entgegnen: Wenn vierzig Jahre lang diese Wärme das Fundament der DDR gewesen wäre, dann ließe sich dieses Fundament nicht in fünf Jahren zerstören. Also müssen dahinter andere Gründe stecken.
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